Samuel Herzog

Dasein im Rhythmus der Gezeiten

«L'île et elle» - Agnes Varda in der Pariser Fondation Cartier pour l'art

   Am letzten Wochenende dieser Sommerferien zog sich der Atlantik vor den Küsten Frankreichs an vielen Stellen so weit zurück wie seit langem nicht mehr. Deutlich über 100 lag der Koeffizient auf der Gezeiten-Skala. Bewaffnet mit kleinen Rechen und Netzen, mit Eisenstangen, Messern, Kesseln und Körben, marschierten die Franzosen zu Tausenden hinter den Wellen her, auf der Jagd nach all den Muscheln und kleinen Meerestieren mit so schönen Namen wie Palourde, Pétoncle und Praire, Amande, Étrille, Bouquet oder Araignée de Mer. Und während einiger Minuten bohrten, kratzten und stocherten sie in einem Meeresboden herum, den seit langer Zeit kein menschlicher Fuss mehr betreten hatte. Um alsdann mit den zurückkehrenden Wellen wieder in Richtung Land zu waten.

Atlantische Melancholie

   Die in Frankreich überaus beliebte Suche nach Muscheln und Krabben im Meeresboden ist mehr als nur ein Familiensport oder eine anachronistische Form der Nahrungsbeschaffung. Denn die atlantische Melancholie ist einzigartig, die einen beim Gang über diesen schlackig-grauen Friedhof voller unerwarteten Lebens und voller plötzlicher Farben erfasst, wo sich das Werden und Vergehen im Rhythmus der Wellen vollzieht. Ebenso einzigartig wie die seltsame Erregung, die einen packt, wenn die See plötzlich wiederkommt, wenn man von ihren Wellenzungen und kleinen Schaumkronen in Richtung Strand gejagt wird.

   Beide Gefühle spielen - mal mehr, mal weniger direkt - eine zentrale Rolle in der Ausstellung von Agnes Varda (geb. 1928), die derzeit in der Pariser Fondation Cartier zu sehen ist. Varda, die als Cineastin mit Filmen wie «Cléo de 5 à 7» (1961) oder «Sans toit ni loi» (1985) bekannt geworden ist, hat ihre Aktivitäten in den letzten Jahren mehr und mehr vom Kino in den Ausstellungsraum verlegt. Und von Beginn weg kreiste ihre Kunst immer wieder um die Insel Noirmoutier, die auf der Höhe von Nantes wenige Kilometer vor der französischen Atlantikküste liegt. Seit den sechziger Jahren beobachtet Agnes Varda dieses kleine Eiland mit zunehmender Faszination - «L'île et elle» setzt dieser Beziehung nun ein Denkmal in Ausstellungsform.

   Im Untergeschoss treffen wir zunächst auf eine Tiden-Tabelle und gleich danach auf eine Barriere, die je nach Uhrzeit geschlossen oder geöffnet ist. Die Installation simuliert die Passage du Gois, über Jahrzehnte hinweg die einzige Verbindung zwischen der Insel und dem Festland - ein knapp sechs Kilometer langes Strassenstück, das je nach Stand der Gezeiten mal befahrbar, mal auch vom Meer überschwemmt ist. Hinter dieser Barriere hat Varda auf einen Lamellenvorhang einen Film projiziert, der das Kommen und Gehen der See im Zeitraffer zusammenfasst. Ist die Barriere offen, dann treten wir durch diesen Vorhang in den Hauptteil der Ausstellung ein - und setzen damit zugleich unseren Fuss auf die Insel der Künstlerin. Im ersten Raum treffen wir auf zwei 15 Meter lange Foto-Friese. Sie zeigen die Atlantikküste bei Ebbe: ein breiter Streifen grauen Meeresbodens, eine Ahnung von Ozean am Horizont, darüber ein wenig Himmel - und in dieser unendlich scheinenden Weite ein paar Muschelsammler bei der Arbeit.

   Durch einen Vorhang aus Korkzapfen, wie sie in der Fischerei gebraucht werden, gelangen wir in den nächsten Raum: Hier liegt Zgouzgou begraben, die im Sommer 2005 auf der Insel verschied - ein mit riesigem Aufwand gefilmtes Memorial für eine Katze. Gleich daneben erhebt sich ein kleiner Berg aus Fleur de sel - dem kostbarsten und delikatesten Teil der maritimen Salzproduktion. Und dahinter leuchtet uns «La Grande Carte postale» als ein «Souvenir de Noirmoutier» entgegen. Die Karte zeigt das Bild einer nackten Blondine, die auf einem Sandstrand posiert - per Knopfdruck können wir in dieser Karte verschiedene Videofensterchen öffnen und uns allerlei Insel-Anekdoten erzählen lassen.

   Nebenan führt uns das «Triptyque de Noirmoutier» per Video einen Insel-Alltag vor, der banal und doch auch seltsam irreal wirkt - als seien da verschiedene Zeiten und Lebenskonzepte verschmolzen, die sich eigentlich nicht verbinden lassen. Die linke Projektion zeigt einen Strand, auf dem ein kleiner Knabe seine Sandburgen baut. Rechts blicken wir in einen riesigen Bauernschrank, der in makelloser Ordnung mit festlichem Geschirr gefüllt ist. Und in der Mitte sitzen drei Personen an einem Küchentisch: Eine Grossmutter in bretonischer Tracht und eine etwas jüngere Frau sind damit beschäftigt, Äpfel zu schälen - zwischen ihnen sitzt ein Mann, der Zeitung liest und Cidre oder Bier trinkt. Irgendwann steht er auf, tritt auf den Strand hinaus, legt kurz Hand an die Burg aus Sand - und verschwindet in den Tiefen des Bildes. Mehr wird nicht erzählt. Dennoch verliert man sich schnell in der Stimmung dieser Bilder, die potenziell ganz verschiedene Geschichten skizzieren - alle aber im Rhythmus des Ozeans, der ständig von links her ins Bild hineinpulsiert. - Wir passieren eine grossformatige Fotografie, die uns «La Mer immense» vor Augen führt: einen von dramatischen Wolken verhangenen Ozean bei Ebbe, aus dem wie eine abstrakte Zeichnung allmählich die Armeen von Pfählen hervortreten, an denen Muschelbauern die «Moules de Bouchot» kultivieren.

   Im letzten Raum des Untergeschosses begegnen wir schliesslich auch noch den «Veuves de Noirmoutier» - einer Installation aus 14 kleinen Bildschirmen, die um eine grössere Videoprojektion in der Mitte angeordnet sind. Auf den kleinen Bildschirmen werden 14 Porträts von Witwen gezeigt - auch die Künstlerin selbst ist dabei. Sie hat die Gespräche «de veuve à veuve» geführt - und den Frauen sehr persönliche Aussagen entlockt. Auf dem Mittelbild sehen wir die 14 Frauen noch einmal, nun gemeinsam am Strand. Ganz in Schwarz gekleidet, bewegen sie sich um einen mächtigen Tisch herum, der wie ein Aufbahrungsort der Erinnerung ins Zentrum des Bildes gerückt ist. Das ist pathetisch, das ist traurig, das ist wunderschön.

Hoch auf dem Stuhl

   Es ist ein mehrheitlich melancholisches Insel-Bild, das Agnes Varda in dieser Ausstellung entwirft. Ja selbst in Arbeiten wie der überaus farbigen Installation «Ping-Pong, Tong et Camping» (Eingangshalle der Fondation) vibriert durch alle Fröhlichkeit ein ganz leicht verhaltener, fast trauriger Unterton. Die atlantische Melancholie wird indes auch immer wieder durch Komisches konterkariert, das die Ausstellung wie eine zweite Stimme durchzieht. Und also bleibt uns vielleicht eine Karikatur in Erinnerung, die Agnes Varda als schrullige Alte auf einem blauen Stuhl mit viel zu langen Beinen zeigt. Sie sitzt am Strand, dank ihrer erhöhten Position vom Wechsel der Gezeiten unberührt. Nur Muscheln findet sie so natürlich keine.

Agnes Varda - L'île et elle. Fondation Cartier, Paris. Bis 8. Oktober 2006



erschienen in NZZ, Montag, 21.08.2006 / 21