Samuel Herzog

Der Solist und sein Puppenensemble

Eine grosse Egon-Schiele-Schau in der Wiener Albertina

Wer meint, die Kalbsschulter mit Sahnesauce, der gefüllte Truthahn und die Serviettenknödel der vergangenen Feiertage hätten auf den körpereigenen Kurven allzu deutliche Bremsspuren hinterlassen, dem sei ein Besuch in der Wiener Albertina empfohlen. Beim Anblick der Frauenakte und nackten Selbstbildnisse von Egon Schiele, die derzeit hier versammelt sind, dürften die ersten Pfunde ganz von alleine purzeln. Tatsächlich sehen die Menschen bei Schiele fast immer aus, als seien sie eben aus einem mutmasslich erotischen Traum erwacht - und fänden sich nackt und allein in den Weiten eines riesigen Schneefeldes wieder. Ausgehungert wirken sie, ausgezehrt vielleicht von ihrer sexuellen Lust, vielleicht von ihrer Angst, dem Getriebensein. Und allesamt scheinen sie mindestens von einem tüchtigen Schnupfen geplagt, der ihnen eine seltsame Röte in die Wangen treibt.

Neocitran-Ästhetik

Mehr als zweihundert dieser Werke in Neocitran-Ästhetik gibt es in der Albertina zu sehen - der grössere Teil stammt aus den hauseigenen Beständen. Ein Hauptanliegen von Albertina-Direktor und Kurator Klaus Albrecht Schröder war es, die in verschiedenste Sammlungen dieser Welt zerstreuten Blätter einzelner Werkgruppen für die Dauer der Ausstellung wieder zu vereinen - und so die filmische Arbeitsweise von Schiele sichtbar zu machen: «Schiele arbeitet sequenziell» heisst es in den Texten zur Schau: «Er zeigt den weiblichen Akt von Ansicht zu Ansicht in forcierten Perspektiven: Schuss und Gegenschuss; sein Blick ruht nicht aus, sondern rotiert gleichsam um das Motiv.»
So plastisch diese Beschreibung von Schieles Arbeitsweise wirkt - in der Ausstellung selbst drängt sie sich nicht wirklich auf. Zwar gibt es immer wieder Reihen von Blättern zu sehen, die sehr schön zusammenpassen. Sie zeugen davon, dass Schiele gewisse Motive über einen längeren Zeitraum verfolgt, gewisse Modelle besonders oft gemalt, gewisse stilistische Eigenheiten sehr bewusst entwickelt hat. Aber nur selten ist der Zusammenhang zwischen einzelnen Blättern so evident, dass Schieles Rotieren um das Motiv sichtbar würde. Am ehesten lassen sich seine kubistisch-erotischen Umkreisungen etwa vor zwei Bleistiftskizzen von liegenden Halbakten erahnen, die er 1914 aufs Papier setzte - mit nervösem Strich und gleichzeitig doch auch einem ausgeprägten Sinn für das Konstruktive seiner Zeichnung. Auch die aquarellierten Akte eines Mädchens mit kurzen, dunklen Haaren, die im selben Jahr entstanden, sowie zwei Akte von 1917 mögen die filmische Vorgehensweise illustrieren. Im grösseren Zusammenhang der Schau hat dieser Aspekt jedoch nur wenig Gewicht.
Dennoch lohnt sich ein Besuch der Wiener Ausstellung - allein schon wegen der Grösse des Unterfangens. Sieht man von den erstaunlich konzentriert wirkenden Gefängnisbildern von 1912, einigen Porträts und ein paar Landschaften ab, so konzentriert sich die Schau schwergewichtig auf Arbeiten auf Papier aus den Jahren 1910 bis 1915, die mehr oder weniger nackte Körper zeigen. Da gibt es zunächst die Leiber der verschiedensten Frauen zu sehen, die sich räkeln und in Pose werfen, die sich ausziehen oder kratzen, die masturbieren, dösen und kokettieren. Stets sind sie aus jedem räumlichen Zusammenhang herausgelöst, von einem unsichtbaren Nebel durch eine Welt geschoben, in der mehr als nur eine Schwerkraft zu wirken scheint. So müssen wir alle Bedeutung in diesen Körpern selbst suchen, alle Erzählung, allen Eros.
Nebst all den verschiedenen Frauen gibt es nur einen Mann, der sich in Schieles Werk nackt und in der ganzen Pracht seines von existenziellen Mikromuskulaturen durchpulsten Körpers in Szene setzt: Es ist der Künstler selbst. 1911 etwa malt er sich als «Eros»: Weitgehend entblösst sitzt er vor uns, starrt uns ernst und mit dunklem Auge an. Mit der einen Hand steuert er seinen erigierten, orangerot leuchtenden Penis durchs Bild, mit der anderen zeigt er auf die noch dunkler glühende Eichel seines Geräts.

Schamleuchten

So viel aktive Erotik, so viel aggressive Sexualität hat Schiele den Frauen in seinen Bildern nie gegönnt: Sie wirken oft, als warteten sie auf etwas - zumindest auf eine zärtliche Geste, auf ein erlösendes Wort oder vielleicht doch auf den Mann mit dem glühenden Gemächt? Das ist sogar in jenen Werken so, in denen die Protagonistinnen eigentlich mit sich selbst beschäftigt wären. 1911 etwa malt Schiele zwei Frauen in zärtlicher Umarmung. Während die eine ganz auf ihre Partnerin ausgerichtet scheint, gleitet der Blick der zweiten aus der Intimität der Umarmung hinaus und nimmt den Betrachter ins Visier - ganz, als ginge es hier eigentlich um ihn.
Man verlässt die Wiener Albertina wie ein erotisches Theater, in dem man einen Solisten mit seinem Puppenensemble bei den Proben beobachtet hat. Und man fragt sich, ob dieses Stück wohl jemals zur Aufführung kommen sollte. Denn nach einer Stunde in der Schau haftet diesen Blättern plötzlich auch etwas ganz leicht Aufdringliches an. Was uns jetzt wieder an die Falten erinnert, die der Sahnebraten uns allzu nahe gelegt hat. Schluss mit Schiele con carne - ab Mitternacht gehen wir auf Diät.

Egon Schiele. Albertina, Wien. Bis 19. März 2006. Katalog (Prestel-Verlag) _ 49.95.



erschienen in NZZ, Samstag, 31.12.2005 / 43