Samuel Herzog

Wie es war und nie gewesen ist

Die Fotografin Germaine Martin in Lausanne

Sie geht mit ihrer Kamera so dicht an die Dinge dieser Welt heran, dass diese ihren Anspruch aufgeben, Dinge dieser Welt zu sein - und zum Bild werden können: die Fotografin Germaine Martin (1892-1971), die derzeit im Historischen Museum von Lausanne mit einer fein gemachten Ausstellung geehrt wird. Nehmen wir zum Beispiel einen Akt aus den dreissiger Jahren. Von hinten blicken wir auf eine junge Frau mit hochgestecktem Haar. Entspannt liegt sie da, auf den rechten Arm gestützt. Das Licht kommt von links oben und trifft ihren Körper so, dass Rücken und Po durch ein verwirrendes Spiel der Schatten in Bewegung versetzt, ja geradezu aus der Form gerissen werden. Denn die Beleuchtung dient hier nicht dazu, den Körper zu modellieren, typische Formen oder Rundungen zu unterstreichen - vielmehr beschreibt das Licht diesen blossen Leib mit einer geheimnisvollen Schrift, mit einer Botschaft, die wir nicht entziffern können.

Fragment in unbestimmtem Raum

Dazu passt, dass der Körper der Frau auf allen vier Seiten vom Bildrand fragmentiert wird: Links sind es die Beine, unten das Gesäss und oben der Kopf, die von der Bildgrenze überschnitten werden - und rechts wird der Schatten der Frau vom Rand gekappt. Nichts lenkt uns hier von dem Blick auf diesen Rücken ab. Die Frage nach dem Ort stellt sich genauso wenig wie jene nach einer möglichen Aktivität dieser Person - obwohl die Haltung ihres Kopfes darauf hindeutet, dass sie vielleicht ja in einem Buch liest. Sie ist ein Fragment in unbestimmtem Raum. Weder drängt sich eine Vorgeschichte auf, die sich ihrem Körper eingeschrieben hätte, noch haben wir das Gefühl, dass gleich etwas geschehen müsse.
Dennoch berührt uns diese Foto sehr direkt. Allerdings ist es eher das Bild, das Sinnlichkeit ausstrahlt - und weniger der Körper. Denn da ist kein Körper, den wir direkt begehren könnten - dafür ist er zu fragmentarisch, zu stark ins Abstrakte hinein beleuchtet, zu sehr Form. Aber das Bild selbst spricht vom Begehren, vom Glück des Blicks, von den kostbaren Augenblicken, in denen wir Schönheit begegnen - jenem Aufflackern des Unerklärlichen im Gewöhnlichen, des Absoluten im sonst so hartnäckig Relativen.
Die Aktbilder stellen zweifellos einen Höhepunkt im Werk von Germaine Martin dar. Meistens fotografierte sie dieselben Frauen, die auch ihrem Mann Modell standen, dem Bildhauer Milo Martin. Mit welcher Experimentierfreude sie dabei vorging, illustrieren nicht zuletzt auch die zahlreichen Porträts der jungen Äthiopierin Mayomi Ziouma, die um 1932/33 entstanden sind: Mal gibt sie sich im Studio seltsamen Verrenkungen hin, mal scheint sie aus dem Nichts ins Bild hineinzuragen, mal sitzt sie nachdenklich da - offenbar im Zwiegespräch mit ihrem eigenen Schatten.
Stark ausschnitthaft sind auch viele der Sach- und Naturfotografien, die Martin in den dreissiger Jahren teilweise für Werbezwecke realisiert. Während die Fotos von Pflanzen und Muscheln oft an Bilder von Karl Blossfeldt erinnern, lassen die Darstellungen von Tennisbällen, Zwirnspulen oder Glasgeschirr an Aufnahmen der Neuen Sachlichkeit denken. Primäres Arbeitsgebiet und hauptsächliche Verdienstquelle allerdings waren für Martin die Porträts. Berühmte Zeitgenossen wie Louis Armstrong, Clara Haskil oder Charles Ferdinand Ramuz treten da ebenso auf wie völlig unbekannte Gesichter. Meist sind auch sie aus grosser Nähe fotografiert und wirken doch so, als bewahrten sie ein Geheimnis oder als seien sie mit irgendeinem Gedanken beschäftigt, der sie entrückt erscheinen lässt. Martins primärer Arbeitsort waren ihr Studio in Lausanne oder dann auch gelegentlich das Atelier ihres Mannes. Es gibt jedoch auch einige Freilichtaufnahmen von ihr, die mehrheitlich auf Reisen entstanden sind: So hat sie Fischer in der Bretagne, Bauern in der Provence oder das festliche Treiben der Zigeuner in Saintes-Maries-de-la-Mer fotografiert - und nicht zuletzt in den dreissiger Jahren auch die Artisten des Zirkus Knie porträtiert.

Als Frau in einem Männerberuf

Vor vier Jahren hat das Lausanner Museum die Archive von Germaine Martin erhalten und seither mehr als 30 000 Bilder inventarisiert - rund 200 davon sind in der jetzigen Ausstellung zu sehen. Die Schau beschränkt sich allerdings nicht darauf, die Ästhetik von Germaine Martin zu illustrieren - mit einer Art Rekonstruktion ihres Ateliers oder vielmehr Salons, mit einem Projektionsraum und diversen Dokumenten vermittelt die Ausstellung auch eine Ahnung vom aufregenden Leben dieser Künstlerin. Als Tochter aus bürgerlichem Haus ging Martin bereits 1911 von Lausanne nach München an die «Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie, Chemiegraphie, Lichtdruck und Gravüre», wo sie bei dem amerikanischen Piktorialisten Frank Eugene studierte. Anschliessend eröffnete sie ein Fotoatelier in Moskau und kehrte erst unter dem Druck der Oktoberrevolution in die Schweiz zurück. In den frühen zwanziger Jahren hielt sie sich länger in Berlin auf, bis sie schliesslich 1927 in Lausanne ihr eigenes Studio eröffnete.
Als Frau hat sich Germaine Martin in einem Beruf durchsetzen können, der damals noch eindeutig eine Männerdomäne war. Und als Künstlerin führt sie uns mit ihren Bildern immer wieder Wunder und Macht ihres Mediums vor. Das Wunder, dass Fotografie Weltfragmente so inszenieren kann, dass sie sich wie Puzzleteile in ein mögliches Ganzes zu fügen scheinen - uns so einen Eindruck einer sichtbaren Realität geben, die wir selbst nie kennen gelernt haben. Und die Macht der Fotografie, die uns zeigt, wie es gewesen ist - obwohl es nie so war.

Germaine Martin - Photographies. Musée historique de Lausanne. Bis 31. Juli. Katalog (Benteli-Verlag) Fr. 39.-.



erschienen in NZZ, 1. Februar 2005 Nr. 26 41