Samuel Herzog

Alltag mit Schüttelfrost

René Magritte in der Riehener Fondation Beyeler

Die Riehener Fondation Beyeler zeigt eine umfassende Retrospektive zum Werk von René Magritte. Auf mauve gestrichenen Wänden sind einige der bekanntesten Bilderrätsel des belgischen Surrealisten versammelt - ergänzt durch Gemälde aus privaten Sammlungen, die bisher kaum je öffentlich zu sehen waren.
Was ist das? Es ist aus Holz, rund und von länglicher Form. Am einen Ende hat es ein grösseres Loch, am anderen eine kleine Öffnung. Man stopft Tabak hinein . . . Richtig! Eine Pfeife! Und falsch! Denn seit ein Künstler namens René Magritte (1898-1967) seine Finger im Spiel unserer Wahrnehmung hat, haben sich die Dinge ganz erheblich kompliziert. Und also steht jetzt unter der Pfeife in braver Schülerschrift «Ceci n'est pas une pipe». Was, wir sehen es ein, absolut richtig ist - handelt es sich doch bei der Sache nur um das Bild eines Rauchgeräts. Das ist die übliche «trahison des images», wie der Künstler seine gemalte Besserwisserei nennt. Damit ist alles gesagt.
Fast alles auf jeden Fall. Denn plötzlich taucht da vielleicht die Frage auf, worauf sich das «ceci» wohl genau bezieht. Ist damit wirklich die gemalte Pfeife gemeint? Oder vielleicht doch eher das Bild insgesamt? Bezieht sich «ceci» auf den ganzen Satz, auf den Nikotinkaugummi, den ich betrachtend in meinem Mund hin und her schiebe? Oder ist gar ein italienischer Gastwirt namens Ceci angesprochen, der sich auf die Zubereitung von Kichererbsen spezialisiert hat - und selbstverständlich keine «Pfeife» ist? Das bringt uns zu der Frage, was der Künstler denn wohl mit «pipe» genau meint. Auch da gibt es allerlei Möglichkeiten, die überraschend und doch stimmig sind. Wie viel dieses Bild, bei dem auf einen ersten Blick doch alles klar zu sein scheint, an Fragen offen lässt, hat Michel Foucault eindrücklich illustriert: Hat er doch dem Gemälde 1973 ein ganzes Büchlein gewidmet.

Erfolg programmiert

Wenn man einmal an den Konventionen des Blicks, der Darstellungen und Bezeichnungen zu rütteln beginnt, dann geraten die Dinge böse ins Wanken. Und René Magritte war wahrlich ein Meister darin, das Gewohnte, das Alltägliche in den Zustand geistigen Schüttelfrostes zu versetzen. Das illustriert nun auch eine Ausstellung in der Riehener Fondation Beyeler, die dem belgischen Surrealisten eine umfangreiche Retrospektive widmet.
Dass die Fondation Beyeler in diesem Sommer ausgerechnet René Magritte zeigt, ist gleichermassen überraschend und auch nicht. Keine Überraschung ist diese Schau, weil zu erwarten ist, dass sich die Besucher vom Namen des listenreichen Belgiers in Scharen nach Riehen werden locken lassen. Der Erfolg ist also vorgespurt, was der Tradition des Hauses entspricht, setzt die Institution doch seit Jahren schon gezielt auf grosse Publikumsausstellungen - verstärkt noch, seit Christoph Vitali hier das Zepter führt. Eine Überraschung ist diese Magritte-Retrospektive indes, weil die Fondation Beyeler selbst über kein einziges Bild dieses Künstlers verfügt. Die knapp hundert Gemälde dieser Schau mussten also allesamt ausgeliehen werden. Trotzdem ist eine Retrospektive zusammengekommen, der es an nichts fehlt - auch das allerdings ist man sich von den Ausstellungen in der Riehener Fondation längst gewohnt, sind diese doch fast durchgängig ausgezeichnet bestückt.
Kurator Ulf Küster hat die Bilder eher nach Motiven denn nach chronologischen Kriterien gehängt - was der Arbeitsweise von Magritte entspricht, der immer wieder ähnliche Motive über längere Zeiträume verfolgt und variiert hat. So gibt es etwa drei Versionen des Mannes mit der Melone zu sehen, dem einmal eine Taube, dann ein Apfel und schliesslich eine Pfeife die Sicht versperrt. Gegenüber ist das Fensterbild «L'Appel des Cimes» von 1943 mit «Le Domaine d'Arnheim» kombiniert. In beiden Bildern steht dieselbe Bergformation im Mittelpunkt, teilweise jedoch spiegelverkehrt. Bei den Schriftbildern finden sich nebst der berühmten Pfeife auch bizarre Arbeiten wie «La Preuve mystérieuse» von 1927, wo drei biomorphe Formen vor einem nachtblauen Himmel einen mysteriösen Beweis antreten. Auch in Bildern wie der vierteiligen «Idée fixe» von 1928 scheint es um ein semantisches Rätsel zu gehen, das zu lösen wir aufgefordert sind. Doch zu welchem Schluss wir auch immer kommen, wirklich sicher sind wir nie. Es gibt also viel zu rätseln in dieser Riehener Schau.

Ein kleiner Rachefeldzug

Und doch würde man Magritte nicht gerecht, wenn man ihn nur als einen surrealen Rätsel-Künstler, nur als Inszenator bildlogischer Purzelbäume verstehen würde. Im Windschatten des intellektuellen Spiels nämlich lässt er verführerisch schöne, manchmal auch geradezu kitschige Bilder entstehen. Bilder, die manchmal an die plakative Welt früher Werbungen erinnern, weit mehr noch aber an Bilderbücher oder an kindliche Welten, die sich der Logik der Erwachsenen trotzig entgegenstemmen. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass viele Bilder von Magritte wie jene schulischen Schautafeln gestaltet sind, die früher als Unterrichtshilfen gang und gäbe waren. Magritte hat sich also in subversiver Weise an jenen didaktischen Mitteln vergriffen, die den Lehrkörper bei der Sozialisierung der Kinder, bei ihrer Normierung unterstützen. So gesehen könnte man Magrittes Bilder auch als einen Rachefeldzug gegen die in der Schule bewirkten Normierungen sehen - eine mehr oder weniger heimliche Auflehnung gegen die Rolle als Kleinbürger, der er im wirklichen Leben nicht entrinnen konnte.
Dass es Magritte nie nur um das Rätsel, das Spiel ging, sondern immer auch um das schöne, das träumerisch schöne Bild, illustrieren in der Ausstellung zum Beispiel die drei Versionen von «L'Empire des Lumières» aus den Jahren 1954, 1961 und 1962. Das Bild zeigt ein Haus an einem Kanal, mitten in dunkelster Nacht. Sanftes Licht dringt aus einigen der Fenster, und eine Laterne vor der Fassade beleuchtet vage das Pflaster der Strasse. Weich spiegeln sich ein Teil des Gebäudes und die Umrisse eines mächtigen Baumes im leicht gekräuselten Wasser des Kanals. Hinter dem Baum aber, über dem in der schwärzesten Dunkelheit versunkenen Dach des Hauses, tut sich ein prächtiger blauer Himmel mit Kumuluswolken auf, wie wir ihn nur an einem schönen Sommertag zu sehen bekommen. Natürlich gibt uns der Künstler da einige Fragezeichen mit auf den weiteren Weg durch die Tage und Nächte.
Und doch kann es ihm nicht nur darum gegangen sein - warum hätte er sonst mehrere Versionen dieser Szene malen sollen? Tatsächlich hat das Bild auch eine enorme Verführungskraft - je länger wir es betrachten, desto mehr tauchen wir ab in eine bizarre, traumartige Welt. Und irgendwann nehmen wir dieses «Reich der Lichter» auch einfach so, als eine wunderbare Bildererfindung, als eine prächtige, etwas kindliche Zauberlandschaft hin - unabhängig von den logischen Zusammenhängen, die hier in Frage gestellt sind. So gesehen führt manches Bild in dieser Ausstellung vielleicht ja doch auch ein heimliches Leben als Pfeife.
Samuel Herzog
René Magritte. Der Schlüssel der Träume. Fondation Beyeler, Riehen. Bis 27. November. Katalog Fr. 49.-.



erschienen in NZZ, Samstag, 13.08.2005 / 43