Samuel Herzog

Le Grand Bleu

Yves Klein - eine grosse Retrospektive im Pariser Centre Georges-Pompidou


Brille auf, tief Luft holen - und ab in die Fluten. Tauchen, tauchen, so schnell es die Muskeln gestatten, tiefer und tiefer, bis die Lungenflügel tanzen, bis die Nerven zittern, bis die Haut sich nach Kiemen sehnt. Dann gibt es nur noch Blau, Blau, so weit das Auge reicht. So hat uns Luc Besson in «Le Grand Bleu» die verführerische Macht der Tiefsee vorgeführt - derart suggestiv, dass uns selbst im Kinosessel der Atem stockte und wir das Popcorn in unserem Schoss ganz plötzlich für ein gefährliches Korallenriff hielten. Auftauchen jetzt.

Abtauchen ins Universum

   Auch Yves Klein wünschte sich, dass die Betrachter seine Kunst nicht nur mit dem Kopf, sondern ebenso mit dem Körper erfahren. Der Franzose aus Nizza war selbst ganz Körpermensch, der als Judo-Lehrer die Pariser Schickeria durch die Luft warf und als Performer in der Banlieue von einer Mauer ins Leere sprang - womit er sich (selbst wenn der Sprung bloss Fotomontage war) demonstrativ die zweite Dominante seiner Arbeit erhüpfte: «l'immatériel». Quasi als verbindendes Element zwischen dem «Körper» und dem «Immateriellen» kam dann noch die «menschliche Sensibilität» hinzu. Denn Yves Klein war überzeugt, dass der moderne Mensch den Weltraum weder mit Sputniks noch mit Rockets erobern werde: «C'est par l'imprégnation de la sensibilité de l'homme dans l'espace que se fera la véritable conquête de cet espace tant convoité.» Doch zurück auf den Boden.

   Das Pariser Centre Georges-Pompidou hat dem 1962 abrupt verstorbenen Yves Klein eine Retrospektive eingerichtet, die nebst mehr als hundert Malereien und Skulpturen auch noch ebenso viele Zeichnungen, zahllose Dokumente, Filme und Tonaufnahmen präsentiert. Ziemlich am Anfang treffen wir natürlich auf das berühmte «International Klein Blue» (IKB), ein leuchtend tiefes Ultramarin, das der Künstler 1956 aus Pigment mit synthetischem Bindemittel entwickelte. Wir finden es auf Leinwänden und Papieren, auf Figuren und Porträts oder auch als Schwammskulpturen. Im zweiten Raum der Schau haben die Kuratoren mit Sitzbänken und Schranken einen Ort der Kontemplation geschaffen, wo man vor einigen «IKB»-Monochromen abtauchen kann - ganz im Sinne des Künstlers, der sich wünschte, der Betrachter würde vor seinen farbigen Oberflächen «ausserhalb jeglicher Dimension so sehr imprägniert, dass er eins werde mit der Sensibilität des Universums». Und wieder back to earth.

   Im Anschluss an die blauen Räume und ein etwas gruseliges «Théâtre du vide», in dem uns der Künstler seine Botschaften vom Nichts direkt in die Hörmuschel flüstert, führt uns die Schau auch noch Kleins Experimente mit anderen Farben und Materialien vor, deren Grenzenlosigkeit er schätzte: Ein Raum ist dem Gold («Monogolds») gewidmet, ein Saal gehört ganz dem Rosa («Monopinks»), einer dem Feuer («Peintures de feu») und einer den Luftarchitekturen. Natürlich fehlen auch die Anthropometrien nicht - jene grossflächigen Malereien, die Klein dadurch realisierte, dass er die Körper junger Schönheiten wie Pinsel übers Papier dirigierte. In einem amüsanten Film sehen wir den Künstler, wie er erst einem kleinen Streichorchester den Takt verpasst - um alsdann ein ganzes Heer blauglänzender Damen auf eine mit Papier ausgespannte Bühne zu bitten. Dass der Cellist während der ganzen Prozedur vor lauter Staunen den Mund weit offen hatte, ist dem Kameramann nicht entgangen. Dabei geht es da nur ganz am Rande um fleischliche Phantasien - selbst wenn Klein die Frauenkörper durchaus brauchte «afin de ne pas rompre en m'enfermant dans les sphères trop spirituelles de la création d'art». Klein verstand sein Blau als Inkarnation des Grenzenlosen, des Universellen - und es war sein Ziel, die materielle Realität mit der «Sensibilität» dieser kosmischen Farbkraft zu durchtränken. Aber tauchen wir nochmals auf.

Im Dienste des Spirituellen

   Die Pariser Ausstellung ist solide gemacht und bemüht sich, le Grand Bleu in all seinen Facetten gerecht zu werden. Mit einem ansehnlichen didaktischen Apparat macht sie vieles in Kleins Werk transparent - alles aber klärt sie nicht. Immer wieder staunen wir nämlich darüber, wie Yves Klein eine im Grunde konstruktive Malerei in den Dienst einer durchaus spirituellen Weltauffassung zieht. Einerseits stellen Kleins Monochromen eine Reaktion auf die gestische Abstraktion dar, die das Europa der Nachkriegszeit dominierte. Durch Klärung der Formen überwinden seine Bilder die Tendenz zum Psychologistischen, die in der Nachkriegskunst manch bizarre Blüte trieb. Andererseits aber werden diese für das Auge so eindeutig und klar, ja geradezu aufklärerisch wirkenden Malereien mit einem spirituellen und theosophischen Gehalt versehen, der sie ganz und gar zu Kultobjekten einer esoterischen Praxis macht. Wie Piet Mondrian war auch Klein an allem Mystischen sehr interessiert, studierte östliche Philosophie und die Kosmogonie der Rosenkreuzer. Er hoffte, «eines Tages alles und alles zu sein, allmächtig im versteinerten Nichts, erstarrt und voll und ganz im Dienste der Erfordernisse eines ewigen Lebens». Genug getaucht - raus aus dem Wasser jetzt.

   Nur, wo ist sie geblieben, die Leine, die wieder nach oben führt? Weiss es vielleicht der Oktopus, der da wie ein Rätselsack mit acht Armen in seiner Höhle grinst - auch er ist blau, wie alles hier unten.

   Yves Klein. Corps, Couleur, Immatériel. Centre Georges-Pompidou, Paris. Bis 5. Februar 2007.



erschienen in NZZ, Freitag, 10.11.2006 / 43