Samuel Herzog

Das Aroma der Natur

Caspar David Friedrich - eine grosse Retrospektive im Folkwang Museum in Essen

   In der Nahrungsmittelindustrie wird das für Erdbeeren so typische Vanillin-Aroma traditionell aus nicht mehr als ein wenig Holz synthetisiert - und trotzdem schmecken Erdbeerbonbons oder Erdbeerjoghurts unvergleichlich stärker nach Erdbeere als jede Frucht. Ähnliches erleben wir auch vor einigen Landschaften von Caspar David Friedrich: Bei ihrem Anblick werden unsere Geschmacksknospen für «Natur» stärker angerührt als bei manchem Gang durchs Gebirge.

Glücksgefühle

   Denn Caspar David Friedrich komponiert seine Landschaften wie ein Koch oder besser vielleicht noch wie ein Aromaforscher, der aus verschiedensten Elementen einen Gusto zusammenstellt. Die Kombination ist durch und durch künstlich, unseren Gaumen aber erinnert sie in einer gesteigerten Form an «Natur» - oder vielleicht eher an das, was wir uns von der Natur erhoffen, an die unbestimmten Versprechen beim Gedanken an die Weiten des Ozeans, an die diffusen Glücksgefühle, die uns in der Erinnerung an einen dunstig-sonnigen Morgen auf dem Fahrrad am Grossen St. Bernhard packen. Und während wir in der Wirklichkeit vor allem schwitzen und auf das Nahen der erlösenden Passhöhe hoffen, klingen diese «Natur»-Gefühle vor Friedrichs Bildern in einer gewissermassen purifizierten Form an - vielleicht am ehesten in einer Art Mischung aus Vorfreude und Erinnerung.

   Mit welchen Tricks Friedrich dabei zu Werke geht, kann man nun im Folkwang-Museum in Essen am Beispiel von siebzig Gemälden und mehr als hundert Zeichnungen auf Papier in aller Ausführlichkeit studieren. Es ist die erste grosse Friedrich-Schau seit der legendären Retrospektive, die Werner Hofmann 1974 in der Hamburger Kunsthalle inszenierte. Sie versammelt fast alle wichtigen Gemälde dieses Parademalers der deutschen Romantik - mit Ausnahme der «Abtei im Eichwald» und des «Mönchs am Meer», der noch in Berlin durch die «Melancholie» an der Teilnahme gehindert wird. Kurator Hubertus Gassner, als Direktor der Hamburger Kunsthalle auch einer der Hauptleihgeber, hat Friedrichs Werke auf dunkelroten und olivgrauen Wänden geschickt in Szene gesetzt. Dass Caspar David Friedrich einzelne Motive über viele Kilometer «reisen» liess, um möglichst eindrückliche Kompositionen zu erhalten, hat die Kunstgeschichte immer wieder genüsslich nach-gewiesen. So verfrachtete er etwa für «Ruine im Riesengebirge» um 1834 ein altes Gemäuer aus der Gegend von Greifswald an den Fuss der nämlichen Hügelkette. Und 1820 versetzte er für einen besonderen «Blick auf die Ostsee» sogar einen ganzen Berg.

   Man braucht jedoch weder ein Ortskundiger noch ein kunsthistorischer Detektiv zu sein, um das Konstruierte dieser Landschaftsbilder zu sehen. Nehmen wir als Beispiel für eine ganze Reihe von bildtechnischen Massnahmen das Motiv der Rückenfigur, das in Friedrichs Werken immer wieder auftaucht. Ob diese Figuren nun ganz klein in den Tiefen des Bildes stehen wie etwa der «Chasseur im Walde» (um 1813) oder gross im Vordergrund wie die «Frau in der Morgensonne» (1818) oder der «Wanderer über dem Nebelmeer» (um 1818), stets haben sie einen ähnlichen Effekt. Weil diese Figuren in die Landschaft schauen, schauen auch wir hinein - und weil sie schauen, wissen wir auch, dass dies wohl ein besonderer Anblick und vor allem der richtige Ort ist, um in die Landschaft zu starren. Indem wir über die Gefühle der Figuren spekulieren oder über die Gründe nachsinnen, die sie gerade an diesem Ort verweilen lassen, mischen sich mehr und mehr auch Erinnerungen an eigene Landschaftserlebnisse ein. Vielleicht machen uns diese Figuren auch bewusst, dass wir selber schauen - grad so wie sie. Und da sie meist kaum mehr mit der Landschaft verbunden sind als wir mit den Bildern Friedrichs, wird plötzlich unklar, wo wir eigentlich den Beginn des Bildes situieren möchten: erst hinter den Figuren oder aber bereits in unserem Auge?

   Auch andere Elemente wie etwa die zentrale Komposition, gerade Horizonte, Reihungen ähnlicher Motive, Parallelogramme usw. sind dazu angetan, uns das Gefühl zu geben, beim Betrachten der Bilder im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein - und nicht irgendwann irgendwo. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob diese Kunstgriffe evident sind oder eher unsichtbar wirken wie etwa der goldene Schnitt. Das Gefühl eines besonderen Moments aber ist wichtig, damit wir bereit sind, unsere «Natur»-Gefühle vor dem Bild an die Oberfläche zu lassen - denn für irgendeinen beliebigen Picknickplatz am Rande der Autobahn sind uns diese Emotionen dann doch zu kostbar, auch wenn da tatsächlich wohl genauso viel Natur stattfindet wie am Kap Arkona. Was für ein gefährliches Geschäft Caspar David Friedrich da betrieb, illustrieren in der Ausstellung Bilder wie der «Tetschener Altar» von 1807/08 - ein Kruzifix auf einem Felsen, das von einem rosafarbenen bis golden leuchtenden Himmel hinterfangen wird. Sobald sich nämlich der Verdacht einstellt, da würden unsere Emotionen mit allzu eindeutigen Mitteln aus der Reserve gelockt, fühlen wir uns mit einem Mal gar nicht mehr betroffen.

Grosse Fragen

   Doch worum ist es Caspar David Friedrich bei diesen Bildern eigentlich gegangen? Wahrscheinlich dürfen wir dieses In-die-Landschaft-Starren, das bei Friedrich manchmal einem Stochern im Trüben ähnlich sieht, als eine Metapher für die Suche nach dem Sinn des Lebens verstehen - wohl geht es um die grossen Fragen, mit denen uns das Existieren belästigt. In manchen Werken bleiben diese Fragen gänzlich offen - allenfalls wird eine Situation des Dialogs zwischen Gemälde und Betrachter angedeutet. In der «Stadt bei Mondaufgang» von 1817 etwa blickt das Bild mit einem grossen Auge zurück - wobei sich Fluss und Himmel zu Lidern wölben, während der volle Mond die Pupille ist. In anderen Bildern allerdings deuten Kreuze an, auf welchem Pfad Friedrich nach einer Antwort auf die Sinnfrage suchte. In «Morgennebel im Gebirge» von 1808 etwa wird ein mächtiger Felsen von Dunstfetzen düster umweht, scheint alles im Trüben, im Mystischen zu versinken - und doch thront, wenn auch nur verschwindend klein, zuoberst ein Kruzifix. Eine eindeutige Antwort auf die Sinnfrage ist das gewiss nicht - aber da deutet sich doch ein Raum an, der über das Bild hinausweist. Ob wir ihn betreten wollen, ist uns selbst überlassen.

Caspar David Friedrich. Die Erfindung der Romantik. Folkwang-Museum Essen. Bis 20. August 2006.



erschienen in NZZ, Samstag, 06.05.2006 / 49