Samuel Herzog

La Belle est la Bête - Ernstfall im Paradies

«Le reflet, le doute, la menace» - ein Ausstellungsreigen in Korsika und Sardinien

Unter dem Titel «Le reflet, le doute, la menace» präsentiert der korsische Fonds Régional d'Art Contemporain (FRAC) eine Reihe von Ausstellungen an verschiedenen Orten. Im Zentrum des grossangelegten Projektes steht die Frage nach dem Charakteristischen der künstlerischen Produktion auf Korsika und Sardinien.
Korsika - Insel der Schönheit. Verwöhnt von der Sonne und sanft umplätschert von den Wogen des Mittelländischen Meeres. Ein Paradies für Wanderfreunde und Hymer-Fahrer, Harpunisten, Paddel-Nixen und Boutique-Kundinnen mit tiefbrauner Haut. Korsika - der Felsen im Meer mit seinen zwar manchmal etwas sturen, doch überaus charmanten Eingeborenen - Fischer und Wildschweinjäger, die in ihrer Freizeit napoleonische Uniformen spazieren führen und liebevoll kleine Maden züchten, welche den Geschmack ihrer Schafskäse verstärken. Korsika - «la belle de la Méditerranée».

Differenzierungen

Natürlich wissen wir, dass das so nicht ganz stimmt, dass diese Schöne auch ein Biest ist - schliesslich erreichen uns von der Insel der «beauté» auch immer wieder ziemlich hässliche Nachrichten. Am offensichtlichsten unschön sind jene von separatistischen Bombenlegern, Banditen und Brandstiftern, welche ganze Landstriche abfackeln. Und dennoch haftet dem Wort «Korsika» eine nach Sonnenöl duftende Fröhlichkeit an, die eine differenziertere Wahrnehmung dieses Eilandes oft erschwert.
Um solche Differenzierungen geht es derzeit in einem grossangelegten Projekt, das Künstler aus Korsika und Sardinien in einer Reihe von Ausstellungen zusammenführt. «Le reflet, le doute, la menace» heisst diese Schau, die vom korsischen Fonds Régional d'Art Contemporain (FRAC) in Zusammenarbeit mit diversen Partnern über viele Jahre hinweg geplant worden ist. Ziel der Kuratoren Anne Alessandri, Giuliana Altea und Christophe Domino war es, das Spezifische der künstlerischen Produktion auf diesen zwei Inseln herauszuarbeiten - weniger über die Motive denn über die Stimmung in den einzelnen Werken. Davon spricht auch der Titel, der keinen thematischen Weg vorspurt, sondern vielmehr einen Assoziationsraum öffnet.
Mit «le reflet» (der Reflex, das Spiegelbild) könnte etwa gemeint sein, dass es nicht nur ein Bild der Wirklichkeit gibt, sondern immer mindestens zwei, die in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Am explizitesten wird das vielleicht in einer Arbeit, die Elie Cristiani aus Ajaccio in der Apsis der ehemaligen Klosterkirche von Morsiglia präsentiert - einem von drei Ausstellungsorten auf Korsika. «Là, il y a là» ist eine Doppelvideoprojektion auf zwei sich gegenüberstehenden Wänden. Auf der einen Seite beobachten wir den Künstler, wie er mit Hilfe seiner Arme und Beine einem antiken Hermenpfeiler Leben einhaucht - wobei sein Kopf hinter dem in den Pfeiler geritzten Steingesicht unsichtbar bleibt. Im zweiten Video betritt der Künstler eine Art Führerstand auf einer Hafenmole und verharrt dort still, mit Blick aufs Meer, den Rücken uns zugewandt - wie ein Dirigent, der in jedem Moment den Einsatz geben wird. Zwischen den beiden Videos entwickelt sich ein seltsamer Dialog der Gesten und Haltungen - ein bizarres Spiegelkabinett, in dem wir ständig unsere eigene Position, unsere eigenen Interpretationen überprüfen müssen. Um Spiegelungen geht es auch in den Fotos von Stéphane Steiner: Seine Raumansichten und Strassenbilder wirken banal und gleichzeitig äusserst fremd - erst nach einigen Augenblicken merkt man, dass er seine Szenerien schlicht auf dem Kopf präsentiert. - Der Zweifel («le doute») hat in dieser Ausstellung an vielen Orten seinen Platz - gleichermassen als kritische Haltung wie auch als eine Art Motor, der Geschichten in Gang setzen kann. So zum Beispiel in den Werken von Simonetta Fadda aus Genua, die längere Zeit als Artist-in-Residence auf Korsika gearbeitet hat und deshalb mit von der Partie ist: In der Bastion de France von Porto-Vecchio im Süden der Insel präsentiert sie unter anderem das Video «Visitors» - Bilder von Touristen, die mit Filmkamera, Sonnenhut und kurzen Hosen die Insel erkunden. Die Aufnahmen sind technisch so bearbeitet, dass sie ganz leicht unscharf und grob wirken. Ausserdem werden sie von einer melancholischen Musik untermalt, die aus einem auf Korsika gedrehten Film von Luis Buñuel stammt. Durch diese Bearbeitungen erscheint das ziemlich vorhersehbare Verhalten der Touristen plötzlich in einem anderen Licht: Nun wirken sie, als spielten sie eine Rolle in einem grösseren Stück - am ehesten wohl in einem Krimi. Nur, wer ist da der Täter, und wer wird das Opfer sein?

Tourismus, melancholisch

Eine gewisse Bedrohung («la menace») ist in einigen Arbeiten spürbar - meist eher als ein Bedrohtsein, als Verletzlichkeit vielleicht auch. Selbst ein wenig bedrohlich sind hingegen die ins Gigantische gewachsenen Blumen, die Hugues Reip im Mittelraum der Kirche von Morsiglia aufgestellt hat - ganz als sei die Natur hier aus den Fugen geraten. Bedrohlich wirken auch die Fotografien und Filme von Gaël Peltier aus Saliceto. Eines seiner Videos etwa wird in einer Seitenkapelle von Morsiglia projiziert. Es zeigt einen gesichtslosen Beobachter, der durch einen halb geschlossenen Lamellenvorhang hindurch ein für uns nicht sichtbares Objekt ins Visier nimmt - acht Minuten lang droht etwas zu geschehen, ohne dass etwas passiert.
«Le reflet, le doute, la menace» ist keine Schau, die sich dem Besucher einfach erschliesst. Wer sich auf die komplexen, manchmal fast etwas hermetischen Welten der rund dreissig Künstlerinnen und Künstler einlassen will, braucht Zeit. Und auch die von den Kuratoren in den Raum gestellte Frage nach dem Charakteristischen der korsisch-sardischen Kunst findet keine einfache Antwort - sondern nur eine Art atmosphärischen Reflex. Was dem Blick von aussen allerdings auffällt, ist die Ernsthaftigkeit, mit der all diese Künstler an die Arbeit gehen. Im Vergleich etwa mit der zeitgenössischen Kunst aus der französischen Hauptstadt, die seit einigen Jahren schon von einer gewissen Nonchalance bestimmt wird, wirken diese Künstler aus der «Provinz» wie die Vertreter einer ganz eigenen Spezies. Auch den abgebrühtesten Besucher aus der Grossstadt wird das berühren. Und wer weiss: Vielleicht nimmt der eine oder andere Tourist nebst Sonnenbrand und Saucisson d'âne ja so auch noch die Erfahrung mit nach Hause, dass Kunst eben doch die stärkeren Spuren hinterlässt, wenn sie mit einer gewissen Ernsthaftigkeit betrieben wird.
Samuel Herzog
Le reflet, le doute, la menace. Morsiglia, bis 2. Oktober. Porto-Vecchio, Bastion de France, bis 2. Oktober. Bonifacio, ehemaliges Schlachthaus, 6. September bis 2. Oktober. Sassari, Museo d'Arte Contemporanea, ab Oktober. Olbia Museum, Oktober bis November. Zu den Ausstellungen auf Korsika ist eine Nummer der Kunstzeitschrift «Semaine» erschienen, _ 4.-.




erschienen in NZZ, Freitag, 19.08.2005 / 40