Samuel Herzog

Im Zentrum der Schweiz



Die Mitglieder des Wanderklubs «Grossglockner» staunten nicht schlecht, als sie am ersten Juli-Wochenende mit Kampfwurst, Vitaminstengel und isotonischen Getränken im Gepäck auf die Älggi-Alp traten. In wenigen Metern Entfernung vom geographischen Mittelpunkt der Schweiz, da, wo gewöhnlich nur Kühe und Biker um die Wette klingeln und bimmeln, war ein viele Meter langes, weiss gedecktes Buffet aufgestellt - überhäuft mit ziemlich exotischen Leckereien. Dahinter zwei Kellner in klassischer Uniform, die einer immer fröhlicher werdenden Gesellschaft geistige Getränke aller Art servierten. Hätten die «Grossglockner» zum Fernglas gegriffen, anstatt frustriert auf einer gedörrten Aprikose herumzukauen, dann hätten sie in den Bäumen hinter der Szenerie vielleicht ein Banner entdeckt: «Le Musée du Point de Vue» stand da vor dem Grün der Tannen zu lesen. «Le Musée du Point de Vue» ist so etwas wie ein nomadisierendes Freilicht-Museum, das der Künstler Jean-Daniel Berclaz seit vielen Jahren schon immer wieder an den verschiedensten Orten dieser Welt in ähnlicher Weise in Szene setzt. Das bleibende Resultat seiner Aktionen sind Fotos - wobei er stets eine menschenfreie Ansicht des Ortes mit einem Bild des Banketts kombiniert. Was bei Berclaz genau das «Musée du Point de Vue» ist, lässt sich nicht zweifelsfrei bestimmen. Als Teilnehmer an einem solchen Gelage weiss man denn auch nie, ob man nun seinen indischen Hühnerschlegel an einem besonders schönen «Point de Vue» konsumiert - oder ob man nicht vielmehr selbst Teil der Aussicht oder Ansicht ist. Eine ganze Reihe dieser «Musées du Point de Vue» gibt es derzeit im Museum Bruder Klaus in Sachseln zu sehen, das dem Künstler eine grössere Ausstellung widmet. Den Rahmen für diese jüngste Inszenierung von Berclaz bildete ein zweitägiges Symposium des Schweizerischen Kunstvereins, das als Teil des seit 1999 laufenden «échanges»-Projektes organisiert wurde. Die Kuratorinnen Esther-Maria Jungo und Helen Hirsch hatten Künstler und Wissenschafter eingeladen, auf der Älggi über «Peripherie als Zentrum» nachzudenken. Im Rahmen des Projektes wurde die Alp noch mit weiteren Kunstwerken bestückt - etwa mit einer Holzskulptur von Jo Achermann oder einem leuchtenden Brot von Isabelle Krieg. Da kamen die «Grossglockner» aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
Le Musée du Point de Vue et Jean-Daniel Berclaz: «Tout partait du même endroit . . .». Museum Bruder Klaus, Sachseln. 21. August. Broschüre gratis.



erschienen in NZZ, Samstag, 16.07.2005 / 46