Samuel Herzog

Mit Firma, Charme und Mütze

Der kanadische Konzeptkünstler Iain Baxter in Nizza

Seit mehr als vierzig Jahren beschenkt Iain Baxter die Welt mit seinen Einfällen. Ausserhalb Kanadas haben das bisher nur wenige wahrgenommen. Jetzt widmet ihm die Villa Arson in Nizza eine Ausstellung, die unsere Augen und unseren Kopf ganz schön fordert.

   Wenn Sie das nächste Mal, zum Beispiel bei einer Passkontrolle, hinter jemandem Schlange stehen, der eine Baseballmütze trägt, dann schauen Sie ganz genau hin. Vielleicht steht ja auf der Rückseite des Käppchens in goldenen Lettern der folgende Satz geschrieben: «Masturbating Life Makes Art». Sie werden sich dann wohl fragen, wie das wohl genau zu verstehen sei: Wie kann man das Leben masturbieren? Und warum soll dabei Kunst entstehen? Bis Sie an der Reihe sind, haben Sie ja genügend Zeit, darüber in aller Ruhe nachzudenken.

   Der Satz ist recht typisch für den Kanadier Iain Baxter, der ihn auf Kappen und T-Shirts, mittels Leuchtband oder Inschrift in die Welt hinausposaunt. Vieles in Baxters Werk wirkt spontan poetisch und irgendwie schlüssig, lässt sich jedoch nie ganz auf eine bestimmte Aussage oder Bedeutung reduzieren. Diese Schwierigkeit, Baxters Ideen mit einem Satz zu fassen, mag mit ein Grund dafür sein, dass er bis heute ausserhalb seiner kanadischen Heimat nur wenig bekannt ist - dies, obwohl er ein Konzeptualist der ersten Stunde ist, der die Kunststratosphäre schon seit den sechziger Jahren ohne Unterbruch mit einem Feuerwerk von Ideen beschiesst.

Cellophan und Gütesiegel

   Nun wird Iain Baxter in der Villa Arson, der grossen Kunstburg im Norden von Nizza, mit einer Ausstellung geehrt, die Marie-Josée Jean aus Montreal und Christophe Domino aus Paris gemeinsam kuratiert haben. In Vitrinen, auf den Wänden und in einer Reihe von Installationen sind zahllose Werke, Dokumente, Skizzen und Objekte in Szene gesetzt, mittels deren wir in den Kosmos von Iain Baxter eingeführt werden. Mehr als hundert Projekte gibt es da zu entdecken, die meisten stammen aus den sechziger und siebziger Jahren. Bei einer solchen Menge formuliert sich wohl im Kopf eines jeden Besuchers eine ganz eigene Erzählung. - Eine solche Baxter-Geschichte könnte zum Beispiel mit dem «Bagged Place» beginnen, den der Künstler im Februar 1966 erstmals realisierte. In einer Galerie in Vancouver liess er eine Vierzimmerwohnung rekonstruieren, die gänzlich in durchsichtigen Plastic eingewickelt war: Wände und Möbel, Lampen, Geschirr und Bücher - alles war in Cellophanfolie verpackt. Nach Auffassung der Kuratoren wollte Baxter damit die hygienischen Normen kritisieren, die zu einer übertriebenen, die Umwelt belastenden Verpackung aller Waren führen.

   Viele von Baxters Ideen wären wohl spurlos verschwunden, hätte er nicht 1966/69 die N. E. Thing Co. gegründet - eine konzeptuelle «Consulting»-Firma, die seinen Einfällen über Jahre hinweg einen Rahmen gab. Wie umfassend die Zuständigkeit dieses Unternehmens war, verrät schon der Name der Firma: An einem Stück ausgesprochen, tönt dieser nämlich verdächtig nach «anything».

   Im Rahmen dieser Firma und ihrer diversen Departemente wurden Ausstellungen organisiert und Gärten gestaltet, Expeditionen in die Arktis unternommen und Unterrichtsprogramme zusammengestellt - auch ein Labor für Cibachrome-Prints (N. E. Photolab) und ein Restaurant mit dem schönen Namen «Eye Scream» gehörten dazu. Was der N. E. Thing Company gefiel, wurde mit einer Art Kunst-Gütesiegel ausgezeichnet: Dieses zeichnete Fotos alltäglicher Situationen ebenso aus wie ein Ready-made von Marcel Duchamp, einen Non-Lieu von Robert Smithson oder die Titelseite einer Nummer von «Art in America».

   In vielen Arbeiten spielt Landschaft eine wichtige Rolle. 1968 zum Beispiel zeichnet Baxter mit seinen Ski eine abstrakte Struktur in einen Hügel über Vancouver, ein Jahr später stellt er Spiegel in die Landschaft und macht Natur so zum beleuchteten Theater. In derselben Zeit realisiert er auch die «Quarter Mile N. E. Thing Co. Landscape». Hierfür stellt er am Rande einer Strasse drei Schilder auf: Das erste informiert die Autofahrer, dass sie bald an einer fünfhundert Meter langen N.-E.-Thing-Company-Landschaft vorbeifahren werden; das zweite gibt ihnen den Befehl «Start Viewing» - und auf dem dritten Schild werden sie mit der Aufforderung «Stop Viewing» wieder aus dem Kunstwerk entlassen.

   An solchen Arbeiten wird die Dimension eines Begriffs erahnbar, der in Baxters Werk eine zentrale Rolle spielt: «sensitive information». Unter sensibler Information versteht Baxter so verschiedene Dinge wie Emotionen und Urteile, Fakten und Ideen, die Umwelt und die Effekte neuer Medien und Technologien. Der Künstler ist laut Baxter ein Produzent solch sensibler Informationen - und als solcher verantwortlich für ihre Wahrnehmung, ihre Organisation, ihre Interpretation und ihre Diffusion.

Stirnrunzeln und Fragezeichen

   Auch dieses Konzept ist verführerisch, poetisch - und in seiner Tiefe nicht ganz zu fassen. Das fordert uns, treibt Fragezeichen durch unsere Gedankengänge und gelegentlich vielleicht auch ein paar Runzeln auf unsere Stirn. Und doch: Auch vor den ganz neuen Arbeiten, die den historischen Kern dieser Schau ummanteln, erliegen wir dem Charme und dem leichtfüssigen, fast jugendlichen Humor dieses Künstlers, der in wenigen Tagen seinen siebzigsten Geburtstag feiern wird. Auf einem kleinen Rasenstück vor den Mauern der Villa hat Baxter einen Friedhof aus Büchern in Szene gesetzt. In regelmässigen Abständen sind da Sachbücher wie Grabsteine aufgestellt - und es ist absehbar, dass sie mit jeder Nacht und jedem Regen tiefer in die Erde versinken werden. Auch da ist wieder vieles angedeutet - eine Art Kreislauf des Papiers oder vergessener Bücher ebenso wie unser Schicksal als Menschen, deren Wissen mit uns im Erdreich versinken wird.

   Die Einfälle des Kanadiers machen auch vor dem eigenen Namen nicht halt. Um seine grundsätzliche Bereitschaft zu Kollaborationen aller Art anzudeuten, hat sich Baxter kürzlich offiziell in Baxter& umbenannt, ein Manöver, das bei Behörden immer noch einiges Misstrauen provoziert - vielleicht ist das ja auch der Grund, warum Sie immer noch in der Schlange stehen.

   Iain Baxter& - Art is All Over. Villa Arson, Nizza. Bis 7. Januar 2007. Gleichzeitig zeigt die Villa eine sehr schöne, retrospektiv angelegte Schau mit Werken von Pierre Bismuth sowie das Projekt «After» von Jean-Max Colard und Thomas Lélu.



erschienen in NZZ, Freitag, 27.10.2006 / 46