Samuel Herzog

Nur mit einem Bein in der Hose

Gaspare Traversi in der Staatsgalerie Stuttgart (2003)

Ein Schmeichler war Gaspare Traversi wahrlich nicht. Vielmehr hat er die Zeitgenossen in seine Bilder zusammengepfercht und sich vor allem für ihre meist allzu menschlichen Schwächen interessiert. Die Staatsgalerie Stuttgart präsentiert den Neapolitaner nun erstmals in einer monographischen Schau - eine vergnügliche Entdeckung.
Mit grossen Augen starrt sie uns aus dem Bild heraus an, ganz als seien wir das Zentrum ihrer Welt. Ja es scheint gar, als habe sie für einen Moment ihr Spiel auf dem Spinett unterbrochen, einen Akkord für Sekunden gehalten, bloss um mit uns diesen direkten Augenkontakt zu suchen. Dabei steht sie selbst ganz entschieden im Mittelpunkt: Nicht weniger als acht Männer buhlen um ihre Gunst. Da bläst ihr einer von hinten mit der Flöte über die Schulter, dort blättert ein Alter mit seinem Gichthändchen die Noten um. Einer hat sich mit dümmlichem Grinsen weit über das Instrument gebeugt, um der Erste zu sein, der vielleicht doch noch ein Lächeln von ihr empfängt. Selbst der Pfaffe, dem der Wein schon leuchtend rot in Nase und Wangen gefahren ist, nimmt die Tasten-Dame mit seinem Monokel scharf in den Blick. Und auch Monsieur, der seine stattliche Wampe am rechten Bildrand wie einen Vorhang in die Szene hineinhängt, scheint bei aller Arroganz doch vor Rührung ganz verkrümmt.
Das «Konzert <a voce sola>» aus den Jahren 1755-1760 ist ein für das Werk von Gaspare Traversi durchaus typisches Gemälde - nicht zuletzt auch, weil es uns so unvermittelt in seinen Bann zieht und wir nicht satt werden, immer wieder neue Details zu entdecken. Meist genügt ein Blick - und schon sind wir mitten drin in dem absurden Theater dieses Neapolitaners, dem die Staatsgalerie Stuttgart derzeit eine rund sechzig Gemälde umfassende Einzelausstellung widmet. Die Schau ist eine Premiere und ein erstes Resultat umfangreicher Forschungen: Denn Traversi war während langer Zeit weitgehend vergessen und wurde erst in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wiederentdeckt. Neben Porträts sowie einigen mythologischen und religiösen Szenen steht in Stuttgart die Genremalerei im Mittelpunkt: Darstellungen von heiteren Musikabenden und ohnmächtigen Schönheiten, blinden Bettlern und entdeckten Liebesbriefen, Operationen und anderen Handgreiflichkeiten.
Sicher zu Recht weisen die Kuratoren darauf hin, dass Traversis Kunst ihre Wurzeln in der barocken Maltradition seiner neapolitanischen Heimat hat und sich stilistisch Beziehungen zu Grössen wie Caravaggio oder Giuseppe de Ribera erkennen lassen. Was indes erstaunt, ist die durchgängige Schärfe seines Blicks. Von «psychologischem Einfühlungsvermögen» zu sprechen, scheint hier allerdings nicht ganz passend: Vielmehr ist es eine maliziöse Lust an der Überzeichnung, eine Liebe zur beissenden Ironie, die jeden Quadratzentimeter seiner Genreszenen bestimmt. Alles wird hier dem Effekt untergeordnet: Der Bildaufbau ist zwar prinzipiell oft recht klassisch, doch wird der Raum so eng zusammengezogen, dass die Figuren geradezu in die Szenen eingeschraubt werden müssen. Auch scheint es, als hätten einzelne Körperteile einer einzigen Person gelegentlich recht unterschiedliche Aufgaben innerhalb des Bildes. Nehmen wir zum Beispiel wieder das «Konzert <a voce sola>»: Der Körper der Pianistin ist da ganz dem Instrument zugekehrt, auf dessen Tasten die Finger liegen. Der Kopf aber ist in einer Weise nach rechts gedreht, die anatomisch überhaupt nicht vermittelt wird - ein Effekt, der stark an eine Eule erinnert, die sich plötzlich zu einem umdrehen kann, ohne die Haltung ihres Körpers zu verändern.
Die Enge des Bildraums führt aber auch dazu, dass sich die Figuren geradezu berühren müssen - ein Umstand, der Traversis bizarrem Erzählstil allerdings durchaus entgegenkommt. In «Die Porträtsitzung» von 1754 etwa sitzt die porträtierte Schönheit mit ausdrucksloser Miene und verschränkten Armen da. Das Gesicht des Zeichners indes glänzt geradezu vor Entzücken. Dramatisiert wird diese Situation durch eine alte Frau, die sich mit neugierigem Blick über den Künstler beugt: Mit einer Hand hat sie ihn um die Schulter gefasst, die Finger der anderen scheinen ihn geradezu am Kinn zu kraulen. Ist sie eine Amme und Kupplerin, welche die Reize der jungen Schönheit preist. Ist sie bloss eine begeisterte Zuschauerin des künstlerischen Aktes? Eine Galatea à la Traversi gar? Natürlich könnten wir die Alte auch als eine Figur verstehen, die an die Vergänglichkeit aller Schönheit gemahnt. Wäre da nicht dieser Zweifel, ob das Entzücken des Künstlers nicht vielleicht gerade auch von den Berührungen ihrer knorrigen Hände provoziert wird. Wie wir es auch drehen: Die Szene bleibt doch ziemlich ambivalent.
Was für das Verhältnis der Figuren innerhalb der Bilder gilt, lässt sich auch für die Beziehung zwischen Werk und Betrachter formulieren: Es kommt einem vor, als hielten Traversis gemalte Alltags-Possen eine gewisse Intimdistanz nicht ein, als würden sie uns immer ein klein wenig zu nahe treten. Dieser Eindruck mag seine Ursache einerseits in dem direkten Blickkontakt zum Betrachter haben, der auf fast jedem Bild hergestellt wird. Andererseits haben viele der Szenen aber auch etwas Intimes, das uns mitunter fast ein wenig peinlich berühren kann. So ist etwa das Gesicht der «Weinenden Verliebten» nicht bloss von ein paar Tränen überkullert: Nein, es ist wirklich hässlich gerötet und von den Furchen des Unglücks maskenhaft entstellt. So genau wollten wir das wohl gar nicht sehen.
Traversi bewegt sich mit seinen Bildern sichtbar auf der Schwelle zu einer neuen Zeit, in der die Gesetze von Individuum und Nationalstaat an die Stelle klerikaler und feudaler Ordnungen treten werden. Er interessiert sich für das, was sich auf dieser Welt tatsächlich beobachten lässt, für das bunte und manchmal auch ganz schön derbe Leben der Strasse zum Beispiel - und nicht mehr für das, was vielleicht dereinst vor dem Throne des Herrn in die Seelenwaage gelegt werden muss. Und doch mischt sich in diese Haltung der Vernunft noch manch barocke Krudheit. Oder kurz: Auch Traversi wirft in seinen Bildern die Scheinwerfer der Aufklärung an - ein paar Sekunden zu früh allerdings: Denn der neue Mensch, der auf seiner Bühne sichtbar wird, steht erst mit einem Bein in der Hose.

Gaspare Traversi (1722-1779). Heiterkeit im Schatten. Staatsgalerie Stuttgart. Bis 16. November. Katalog (Ostfildern Ruit: Hatje-Cantz-Verlag, 2003) _ 39.80.




Gaspare Traversi: «Konzert <a voce sola>», 1755-1760. (Bild Katalog)


erschienen in NZZ, FEUILLETON, 29. August 2003 Nr. 199 45