Samuel Herzog

Schaurig schön

Tizian in der National Gallery London (2003)

Die Londoner National Gallery widmet Tizian eine aufwendig inszenierte und als Grossereignis angekündigte Ausstellung, die allerdings mit ihren nur gerade vierzig Bildern doch erhebliche Lücken aufweist. Dennoch gibt es eine Reihe von meisterhaften Werken zu bestaunen und manches in den Bildern des Venezianers zu entdecken.

Zu Aegina kam er in Gestalt eines Feuers, Antiope hat er als Satyr in Angriff genommen und Europa als Stier entführt. Persephone hat er im Kostüm einer Schlange umgarnt, Klytoris als Ameise erstürmt, und bei Leda ist er als Schwan gelandet: Zeus, der in Liebesdingen nimmermüde Himmelsvorsteher, hat mit seinen libidinösen Maskeraden der dichterischen Phantasie ein schier endloses Feld eröffnet. Auch bei Danae, der Tochter des Akrisios und der Eurydike, ist er auf originelle Weise vorgedrungen. Vater Akrisios, einem Urenkel des Danaos, war prophezeit worden, dass der Sohn seiner Tochter ihn dereinst töten werde. Um die Entstehung jedweden Sohnes auf mechanischem Wege zu verunmöglichen, sperrte er Danae in ein Haus aus Bronze ein. Zeus aber verwandelte sich in einen goldenen Schauer, drang durch die Bronze ein und schwängerte die junge Frau. - Ovid, der diese Episode im sechsten Buch seiner Metamorphosen erwähnt, lässt sich nicht weiter dazu aus, wie man sich diesen Geschlechtsakt vorzustellen hat. Die Renaissance indes, deren Klerus einen gesteigerten Bedarf an erotischem Bildmaterial hatte, drang mit viel Phantasie in die Mythen der Alten ein - und erweckte sie, zumindest in Malerei und Dichtkunst, zu neuem, fleischlichem Leben.

LENDENLUSTIGKEITEN

Vor diesem Hintergrund ist auch die «Danaë» zu sehen, die Tizian 1544-1546 für Kardinal Alessandro Farnese malte (Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel). Nun braucht es nicht viel Phantasie, sich einen lendenlustigen Zeus als Stier, als Schwan oder Satyr vorzustellen - doch wie soll man den hormonellen Ausnahmezustand eines goldenen Schauers sinnfällig machen? Tizian hat das Problem dadurch gelöst, dass er aus dem goldenen Schauer einen Dukatenregen gemacht hat - fallen Geldstücke doch wesentlich aggressiver als gewöhnliche Tropfen. Also hat der Maler über Danae eine Art Wolkenbruch inszeniert, aus dessen Donnerzone heraus die Dukaten in Richtung auf den Frauenleib herabschiessen. Eigentlich müsste der Körper der Danae längst mit Goldstücken übersät sein. Auf wundersame Weise aber haben sich die Dukaten stattdessen links im Bett neben der jungen Frau zu einem sauberen Häufchen hingelegt - ganz wie ein erschöpft zur Seite gesunkener Liebhaber. Vielleicht kann man so weit gehen, hier eine synaptische Darstellung zu sehen, bei der das Vorher und das Nachher gezeigt werden, der Akt selbst sich aber in unserer Phantasie abspielen muss.
Dass Tizian den goldenen Schauer hier als einen Dukatenregen inszeniert, macht auch deutlich, dass er nie daran gedacht hat, seinen Auftraggebern könnte an einer möglichst sinnfälligen Darstellung des antiken Mythos gelegen sein. Wer die Geschichte der Danae nicht kennt, sieht hier eine Kurtisane, die mit ihrem Kapital ins Bett steigt. Auch scheint sich keiner von Tizians Zeitgenossen daran gestört zu haben, dass der Maler hier die poetische Vorstellung eines göttlichen Goldschauers in so etwas wie eine leicht staubige Schatzkiste übersetzt hat, die über dem Haupt der Dame ausgekippt wird. Rund fünf Jahre später hat Tizian für Philipp II. eine zweite Version der Danae geschaffen, die heute im Prado hängt: Auf diesem Bild sitzt eine Magd am Fusse des Bettes und versucht, einige der Dukaten in ihrer Schürze aufzufangen. Um Verhütung geht es dabei nicht, dafür wirkt das Gesicht der Magd zu geldgierig. Ausserdem kann man sich fragen, ob dem Göttervater bei der Rückverwandlung nicht die Schauerteile fehlen, mit denen sich die Magd in der Zwischenzeit davongemacht hat.
Sieht man in der neapolitanischen Version von Tizians Behandlung des göttlichen Goldschauers ab, hat er sich doch viel Mühe gegeben, die Szene möglichst «antik» aussehen zu lassen. So liegt Danae in einer Weise auf dem Lager, die der Haltung jener römischen Flussgötter entspricht, die namentlich in den Gärten der Renaissance auf keiner Brunnenanlage fehlen. An die Stelle des ausfliessenden Wasserkrugs hat der Maler hier ein Kissen und einen dahinfliessenden Schleier gesetzt, der vom unteren Bildrand leicht überschnitten wird. Antikisch wirkt natürlich auch der Putto, der, wie findige Forscher herausgefunden haben, von der Haltung her einer berühmten Figur des griechischen Bildhauers Lysippos nachempfunden ist. Ebenfalls antik, vor allem aber einigermassen verwirrend wirkt schliesslich auch die Säulenbasis, die Tizian auf ein Postament erheben musste, um sie im Bild sichtbar zu machen. Nimmt man die Dicke der Säule zum Massstab, so muss Danae in einem Raum etwa vom Ausmass des Parthenons liegen - ein zünftiges Schlafzimmer, dürfte man meinen, und das auch noch in einem Haus aus Bronze. Eingeschlossen wirkt die junge Frau aber ohnehin nicht. Eher scheint sie vor einer Art Balkon oder zumindest einem grossen Fenster hingestreckt, wird doch im Hintergrund eine abendliche Landschaft sichtbar.

ZWEIFELLOS PHANTASTISCH

Während Cupido voller Verwunderung, ganz verblüfftes Kind, mit halb geöffnetem Mund auf den Goldregen starrt, ist der Gesichtsausdruck von Danae weit weniger eindeutig. Zwar blickt auch sie in den göttlichen Schauer, doch mit einem völlig verträumten Gesicht. Meist wird dieser Ausdruck als eine Form der Ekstase gelesen - sie sei «searching for the invisible source of pleasure», schreibt etwa David Jaffé. Sieht man indes für einen Moment davon ab, dass Sex mit Zeus zweifellos phantastisch sein muss, so deutet der Gesichtsausdruck der Danae doch eher auf ein völliges Desinteresse hin. Zwar schaut sie den Goldregen an, doch geht ihr Blick auch durch ihn hindurch: So schaut wohl eine professionelle Kurtisane ihrem Freier entgegen - und eher noch als «pleasure» könnte man etwas Traurigkeit in ihren Zügen entdecken. Wie viel eindeutiger wirkt da die spätere Danae: Mit geschürzten Lippen fletscht sie dem Goldregen wollüstig entgegen.
Die «Danae» aus Neapel ist eines der Prunkstücke einer Ausstellung, die derzeit in der Londoner National Gallery den venezianischen Maler Tiziano Vecellio feiert, der vor 1490 im Bergdorf Pieve di Cadore zur Welt kam und 1576 in Venedig an den Folgen der Pest verstarb. Die chronologisch geordnete Schau beginnt mit Werken wie der «Zigeunermadonna» (um 1511), in welchen der plastische Blick von Tizians Lehrer Giovanni Bellini noch deutliche Spuren hinterlassen hat. Sie führt über frühe Meisterwerke wie «Die heilige und die profane Liebe» (1514) zu reiferen Höhepunkten von Tizians Malerei wie zum Beispiel der überaus preziösen Pariser «Madonna mit dem Hasen». Den Abschluss der Schau bilden Spätwerke wie der «Tod des Aktaion» (1565-1576) oder die gruselig phantastische «Häutung des Marsyas» (1570-1576), deren «impressionistische» Pinselgestik die Forschung bis heute darüber streiten lässt, ob diese Werke nun als vollendet zu betrachten sind oder bloss als vollkommen. - Einen der Höhepunkte der Londoner Schau stellt die Rekonstruktion des «camerino» von Alfonso d'Este dar. 1516 wurde Tizian vom Herzog von Ferrara mit der Vollendung einer Reihe von Bacchus-Szenen betraut, die sein Lehrer Giovanni Bellini und Dosso Dossi begonnen hatten. Dieses Ensemble aus berühmten Bildern wie dem «Venusfest» oder «Bacchus und Ariadne», das wenige Jahrzehnte nach seiner Entstehung bereits auseinander gerissen war, wurde nun in London zum ersten Mal wieder zusammengeführt - die Anordnung neuesten Forschungen entsprechend rekonstruiert. Eine Klassenzusammenkunft sozusagen, die allerdings vor allem auch zeigt, welch unterschiedliche Lebensgeschichten die einzelnen Bilder durchgemacht haben. Im Vergleich mag man so vor allem «Bacchus und Ariadne» bedauern, deren Züge heute mehr über den Geschmack der Restauratoren verraten denn über die Arbeitsweise ihres venezianischen Schöpfers.
Verglichen mit der grossen Retrospektive von 1990 in Venedig und Washington sowie dem «Siècle du Titien» im Pariser Grand Palais ist die britische Schau mit ihren gut vierzig Gemälden relativ mager bestückt - vor allem auch wenn man die lange Schaffenszeit des Künstlers und sein riesiges OEuvre bedenkt. Lücken sind da unvermeidbar. Ausserdem gehört ein Viertel der Exponate ohnehin zum festen Bestand des Hauses. Dass sich die Ausstellung trotzdem wie ein «Blockbuster» verkauft, spricht dafür, dass der Erlebnischarakter solcher Projekte längst viel wichtiger geworden ist als ihr kunsthistorischer Gehalt. Das mag man bedauern. Ohne das sogenannt «grosse Publikum» allerdings würden solche Ausstellungen wohl gar nicht mehr zustande kommen: Die Versicherungskosten alter Meister sind unterdessen derart hoch, dass sich solche Vorhaben (auch vor den Sponsoren) wohl nur noch mit Hilfe eines immensen Publikumsandrangs rechtfertigen lassen. - Wie sich die Ausstellung in diesem Sommer in Madrid präsentieren wird, steht noch dahin: Der Prado besitzt mehr Bilder des tüchtigen Venezianers als jedes andere Museum dieser Welt. Und es könnte durchaus sein, dass da zum Beispiel die verhaltene Danae aus Neapel mit ihrer lüsternen Schwester aus Madrid in einem Raum zusammenkommt - ein erotisches Gipfeltreffen zweifellos.


Titian. National Gallery London. Bis 18. Mai. Vom 9. Juni bis 1. September ist die Ausstellung im Prado Madrid zu sehen. Katalog £ 9.95.


Antike Königstochter oder moderne Kurtisane? Tizian: «Danaë», 1544-1546; Öl auf Leinwand. (Bild Katalog)


erschienen in NZZ, FEUILLETON, 19. April 2003 Nr. 91 58