Samuel Herzog

Ein Akt des Ornaments

Egon Schiele im Museo d'Arte Moderna Lugano (2003)

Es sind hauptsächlich Egon Schieles Menschenfiguren, die ihn berühmt gemacht haben: ausgezehrte Körper mit Gliedmassen in komplizierten Verschränkungen und grossen, ausdrucksstarken Augen. Menschenfiguren, die wirken, als würden sie von den Anmassungen einer schwierigen Zeit zusammengepresst. Menschen auch, die auf äusserst komplizierte Weise in sich selbst, in ihren eigenen Körpern Halt suchen - und doch keinen finden können. Dass Schiele aber nicht nur Akte und Porträts gemalt hat, sondern in seinem kurzen Leben auch eine recht grosse Anzahl von Landschaften schuf, illustriert derzeit eine Ausstellung im Museo d'Arte Moderna von Lugano. In einer Inszenierung, die manchmal etwas zu sakral geraten ist, gibt es hier zwischen geheimnisvollen Männer-Bildnissen und sich räkelnden Frauen auch Landschaften wie «Kleine Stadt II» (1912/13) oder «Häuser mit bunter Wäsche» (1914) zu entdecken - Stadtansichten aus einer leichten Vogelperspektive, Häuserreihen, die Schiele mit einer unübersehbaren Faszination für Einzelheiten wie die roten Kamine oder die mit architektonischen Details korrespondierenden Farben der Wäsche in Szene gesetzt hat.
Was die Menschenbilder und die Landschaften miteinander verbindet, ist in erster Linie das Ornament. So wie Schiele die Körper oft als eine Suite aus ornamentalen Details begreift, so setzt er auch seine Häuserreihen aus Elementen zusammen, die teilweise wohl dem sichtbaren Vorbild, teilweise aber auch der ordnenden und komponierenden Phantasie des Künstlers entspringen. Und so wie die Verrenkungen der Figuren in Schieles Bildern letztlich wohl dazu dienen, die Körper als Ornamente zur Sprache zu bringen, so müssen sich auch die Häuser in diesen Bildern dem Rhythmus des gestaltenden Blickes beugen.
Besonders deutlich wird diese Nähe zwischen Körperbild und Landschaft in einem Akt von 1917. Zunächst fällt das helle Tuch auf, in welches diese «Liegende Frau» gebettet ist. Wie bei den Heiligenfiguren der späten Gotik führt auch hier der Stoff ein kompliziertes Eigenleben, das ihn durchaus wie eine Landschaft erscheinen lässt - ganz ähnlich hat Schiele etwa 1913 eine «Flusslandschaft mit zwei Bäumen» gemalt. Überhaupt geht die dominante Bewegung in diesem Bild nicht von der Figur, sondern eher von dem Stoff aus, der sich ja auch wie eine völlig opake Schranke zwischen den Oberkörper und den Unterleib der Frau gelegt hat - den Akt also optisch in zwei Teile zerlegt. Ein Eindruck, der dadurch unterstützt wird, dass die Haut des Unterleibs deutlich dunkler ist als das Inkarnat des Oberkörpers. Doch auch der Akt selbst ist hier in einer Weise komponiert, die sich mit der ornamentalen Auffassung in Schieles Landschaften vergleichen lässt: In «Vorstadt I» (1914) etwa begeistert sich Schiele für das leuchtende Rot der Kamine und Vordächer und gewinnt aus ihnen den Rhythmus seines Gemäldes. In der «Liegenden Frau» sind es die rötlichen Schimmer an den Füssen und Ellbogen, den Fingern, Wangen, Lippen, Brustwarzen und dem Geschlecht der Dargestellten, die den Takt des Auges bestimmen. Die moderne Zersplitterung des Blicks - sie findet hier im Ornament ihren Ort.


Egon Schiele. Museo d'Arte Moderna, Lugano. Bis 29. Juni. Katalog Fr. 50.-.





erschienen in NZZ, FEUILLETON, 23. April 2003 Nr. 93 58