Samuel Herzog

Der Meisterschüler

Das Frühwerk von Raphael in London (2004)

«Raphael - von Urbino nach Rom» nennt die Londoner National Gallery eine Ausstellung, die sich auf das Frühwerk des Renaissancemeisters konzentriert. Mit gut achtzig Werken ist das die grösste Raphael-Schau, die je ausserhalb von Italien zu sehen war.
«My name as well is Raphael, so please support me with a small fee», steht da mit dickem Filzstift auf einem Pappschild geschrieben. Neben dem kleinen Reim quellen bunte Plastictüten und allerlei Stoffe aus einem Einkaufswagen. Setzt der Autolärm auf der Pall Mall für einen kurzen Moment aus, so ist ein rhythmisches Pfeifen zu hören, das dann und wann von einem leichten Schnauben unterbrochen wird. Quelle dieser Töne scheint eine Trapezform zu sein, die rot in der rechten unteren Ecke eines Hauseingangs leuchtet: Es ist ein Schlafsack, aus dem bei genauerem Hinsehen ein paar Hände und nackte, vom Strassendreck schwarze Füsse ragen. Der Kopf des Mannes, ein einziges Haarbüschel, ist auf die Brust herabgesunken.

Agonie im Garten

Das Bild hat keinen Namen - auch wird es wohl bald abgeräumt, von der Polizei, einem Sozialdienst oder den Hausbewohnern. Und doch passt es hierher - in einem doppelten Sinn sogar. Ein paar Schritte weiter nämlich, im Sainsbury Wing der Londoner National Gallery, treffen wir in der derzeitigen Raphael-Ausstellung auf ein Gemälde mit einer ganz ähnlichen Figur. Dieses Bild hat einen Namen, es heisst «The Agony in the Garden», stammt aus den Jahren um 1504 und war einst Teil der Predella eines Peruginer Altars. Es zeigt Jesus auf dem Ölberg und drei Jünger, die schlafen, anstatt für ihren Meister zu beten. - Das schläfrige Bild von der Pall Mall passt aber auch sonst ganz gut zu Raphael, wurde dieser Künstler doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder als der grosse Langweiler der Renaissance gehandelt, als zu lieblich, zu brav, zu glatt, zu sentimental, zu idealisierend, zu wenig eigenständig, zu wenig zerrissen . . .
Das war allerdings nicht immer so - im Gegenteil: Dem Barock und dann vor allem auch dem Klassizismus galt Raphael unbestritten als das grosse Vorbild. Künstler wie Carracci, Ingres oder Poussin haben den divinen Raffaello als Bilderfinder und grossen Formalisten verehrt - und vierhundert Jahre lang war er weit wichtiger als etwa Leonardo da Vinci oder Michelangelo.
Erst die Moderne hat Raphael aus dem Himmel geholt: Die Präraffaeliten haben sich an der Zeit unmittelbar vor Raffael orientiert, wo sie die gesuchte Unmittelbarkeit besser zu finden glaubten. Die Impressionisten und dann auch die Expressionisten sprachen sich gegen ihn aus - «die Pädagogen wie Phidias und Raffael haben uns nichts mehr zu sagen», hat es Gustave Courbet formuliert. Und Roberto Longhi will Raphael in seiner «Kurzen, aber wahren Geschichte der italienischen Malerei» gar nicht mehr zu den «echten Malern» zählen, sondern höchstens noch zu der «Schar jener Grafiker, die Lebensideale illustrieren». Da nützte es auch nichts, dass Künstler der Neuen Sachlichkeit wie Christian Schad sich wieder auf Raphael beriefen - der Göttliche blieb dem Gaumen der Moderne eine fade Speise.
Auch die verschiedenen Raphael-Ausstellungen, die 1983 anlässlich seines 500. Geburtstags zu sehen waren, haben daran wenig geändert. Die Raphael-Forschung hat zwar seither zugenommen, zahlreiche Publikationen und Werkverzeichnisse sind erschienen, doch so richtig erwärmen konnten sich die Herzen der Kunstfreunde nicht. Das illustriert auch der soeben (bei Hatje Cantz) erschienene Band mit Interviews, in denen Werner Schmalenbach seine Meinung sagt: «Je länger man darüber spricht, desto trister, banaler und unwahrer wird Raphael» - ja, ein Bild des Italieners kann ihn gar in «schlechte Laune» bringen.

Mehr als achtzig Werke

Eine Art Entgegnung versucht derzeit die Ausstellung «Raphael - from Urbino to Rome», die sich auf das Frühwerk des Künstlers bis zum Tod von Papst Julius II. im Jahr 1513 konzentriert. Die Argumente für Raphael, die da im Untergeschoss des Sainsbury Wing zusammengetrommelt wurden, sind beträchtlich: mehr als dreissig Malereien, mehr als achtzig Werke insgesamt - so viel Raphael aufs Mal gab es auch zum 500. Geburtstag nirgends zu sehen.
Die National Gallery besitzt selbst kapitale Werke wie die «Madonna Ansidei» von 1505, die «Bridgewater Madonna» von 1507, das Porträt von Papst Julius II. (1511) oder die in ihrer Zuschreibung an Raphael immer wieder einmal angezweifelte «Madonna mit den Nelken» von 1506. Die ansehnlichen Hausbestände bilden das Rückgrat der Schau, werden jedoch durch teilweise ganz ausserordentliche Leihgaben aus der ganzen Welt ergänzt: Die «Madonna Conestabile» (1503) reiste aus der Ermitage St. Petersburg an, die Drachentöter Michael (1504) und Georg (1509) aus dem Pariser Louvre, die Florentiner Uffizien liessen das berühmte Selbstporträt von 1506 ziehen, und die Nationalgalerie von Washington trennte sich gar von ihrer «Madonna Alba» - frisch geputzt, stellt sie einen der Höhepunkte dieser Ausstellung dar.
Die von Hugo Chapman, Tom Henry und Carol Plazzotta kuratierte Schau geht ganz klassisch kunsthistorisch vor. Einerseits stellt sie den Gemälden Raphaels erhaltene Vorzeichnungen zur Seite und lenkt so unseren Blick auf die Entstehungsgeschichte einzelner Bildlösungen. Andererseits werden Raphaels Werke auch mit Arbeiten seiner Vorgänger und Vorbilder konfrontiert. So wird deutlich, wie rasend schnell Raphael äussere Einflüsse aufgenommen und in eigenständige Lösungen umformuliert hat.
Raphaels erster Lehrer war sein Vater Giovanni Santi, Künstler am Hof der Herzöge von Urbino. 1502 tritt der junge Maler in das Atelier von Pietro Perugino ein, dessen süsslichen, verklärt-frommen Stil er sofort absorbiert - und perfektioniert, wie in der Ausstellung etwa die sogenannte «Mond-Kreuzigung» von 1502 eindrücklich zeigt. Zwei Jahre später dann gelangt er nach Florenz, wo er auf den dreissig Jahre älteren Leonardo und den acht Jahre vor ihm geborenen Michelangelo trifft. Beider Werk fasziniert ihn ungemein. Wie sehr, illustriert in London zum Beispiel das gezeichnete «Porträt einer Dame» aus dem Louvre (1505) - eine ganz leicht verjüngte und ohne das bekannte Lächeln auch weniger enigmatische Version der Mona Lisa. Als Pendant dazu finden wir etwa eine Zeichnung nach Michelangelos «David», die Raphael um 1507 anfertigt.
Die Ausstellung setzt viel daran, dem Betrachter mit Hilfe von Vergleichen deutlich zu machen, wie klug Raphael die bei Perugino gelernte Eleganz mit Leonardos Besinnlichkeit und Michelangelos Dynamik zu verbinden weiss und allem auch stets seine eigene, humane Note verleiht. Diese Entwicklung, die ganz von der subtilen Integration sich eigentlich widerstrebender Tendenzen lebt, findet vielleicht in der «Bridgewater Madonna» einen ersten Höhepunkt. Sie setzt sich über die sogenannte «Borghese-Grablegung» von 1507 fort, deren wechselvolle Genese in der Ausstellung mit zahlreichen Zeichnungen dokumentiert ist (während das Originalgemälde Italien nicht verlassen durfte).

Begabt - aber kein Genie

1508 folgt Raphael einem Ruf nach Rom - Papst Julius II. sucht Künstler für die Dekoration seiner privaten Gemächer. Auch die in London gezeigten Vorzeichnungen zur «Disputa», zu Raphaels frühestem Fresko in der Stanza della Segnatura, sind wieder ganz von der Suche nach einem Mittelweg zwischen Zärtlichkeit und Dynamik geprägt. Ein gänzlich neuer Einfluss wird dann erst wieder um 1511 spürbar, als Raphael in Rom Sebastiano del Piombo begegnet und mit der venezianischen Malerei konfrontiert wird. Die Londoner Ausstellung schliesst mit einem Bildnis, das einen Ausblick auf dieses neue Kapitel in Raphaels Kunst gibt - der «Donna Velata» von 1512.
Ob es der Londoner Ausstellung gelingt, den Meister aus Urbino wieder in ein besseres Licht zu rücken, ist fraglich. Die britische Presse jedenfalls schoss teilweise scharf: «Just because it's old doesn't mean it's good», titelte zum Beispiel der «Independent» und warf Raphael vor, ein unendlicher Langweiler zu sein - begabt, das schon, und fleissig, jedoch «far from being a driven, struggling genius».
Ein solches Urteil ist recht typisch für die Raphael-Rezeption der letzten gut einhundert Jahre. Es hat jedoch eigentlich mit Raphael nur wenig, viel aber mit dem Geniekult und Geniebegriff der Moderne zu tun. Dass Raphael während vierhundert Jahren als ein göttliches Genie verehrt wurde, mag man für übertrieben halten. Man sollte jedoch bedenken, dass sich auch die Moderne vergleichbare Objekte der Verehrung geschaffen hat - den Mythos des zerrissenen und von archaischen Kräften getriebenen Genies zum Beispiel, wie es Michelangelo so perfekt zu verkörpern scheint.
Ganz bestimmt ist die Londoner Schau eine grossartige und eingedenk der Fragilität dieser Werke wohl auch nicht so bald wiederkehrende Gelegenheit, sich selbst ein Urteil über die Qualitäten und Schwächen dieses Künstlers zu bilden. Und wer beim Verlassen der Galerie auf der Pall Mall den schnarchenden Clochard sieht, sollte ihm ein Pfundstück ins Strickkäppchen legen - für einen Bettler ist das viel Geld, für einen Raphael aber geschenkt.

Raphael - from Urbino to Rome. National Gallery, London. Bis 16. Januar 2005. Katalog £ 25.-.



Raphael: «Bridgewater Madonna», um 1507, Öl auf Holz. (Bild Katalog)


erschienen in NZZ, FEUILLETON, 23. Oktober 2004 Nr. 248 43