Samuel Herzog

«Wenn zu perfekt, liebe Gott böse!»

Zum 70. Geburtstag von Nam June Paik (2002)

Bekannt geworden ist Nam June Paik vor allem mit seinen flimmernden Roboter-Figuren und aufwendigen Grossinstallationen. Technologie ist für ihn kein notwendiges Übel, sondern ein selbstverständlicher und vor allem selbstverständlich zu gestaltender Teil der Umwelt. Heute feiert Paik in New York seinen 70. Geburtstag.

Sie haben nicht allen gefallen, die grossen, mit viel technischem Aufwand produzierten Installationen oder Skulpturen, die Nam June Paik in den letzten Jahren in wichtigen Museen dieser Welt gezeigt hat. Die aus unzähligen Fernsehmonitoren bestehende «Turtle» von 1993 etwa, deren Panzer das Auge mit einem nicht enden wollenden Bilderreigen überflutet, schien manchen Kritikern zu technophil, zu farbig, zu opulent, zu kitschig. Und den anthropomorphen Figuren aus flimmernden Fernsehern und alten Radios, diesen Mitgliedern von Paiks 1986 gegründeter «Family of Robot», ist man vielleicht schon zu oft auf Kunstmessen und in privaten oder öffentlichen Sammlungen begegnet.

Heute nun feiert der Koreaner Nam June Paik, der seit vielen Jahren schon in New York lebt, seinen siebzigsten Geburtstag. Eine Gelegenheit, sich an Paiks Bedeutung für die Videokunst, seine Erfindungskraft und auch seine kritische Position gegenüber neuen Technologien zu erinnern. Als ausgebildeter Komponist trat Paik zunächst mit Performances im Bereich der Musik hervor: 1959 etwa führte er in der Galerie 22 in Düsseldorf seine «Hommage an John Cage» auf, ein Stück, das Radio und Tonband als Geräuschquellen nutzt und auch ein umstürzendes Klavier als Klangereignis einsetzt.

Fernseher mit Pedal

Bekannter als diese frühen Inszenierungen sind jene, die aus der Zusammenarbeit von Paik mit der klassischen Cellistin Charlotte Moorman resultieren. 1967 etwa spielt Moorman - Paiks Bemühungen um «erotische Musik» folgend - die Suiten von Bach und entledigt sich dabei nach jeder Aria eines Kleidungsstückes. Berühmter noch sind die Auftritte der Cellistin mit Paiks «TV-Bra for Living Sculpture» - zwei wie ein Büstenhalter auf die Brüste montierte Monitore, die mal eine Suite von farbigen Bildern, mal Aufnahmen des Publikums oder auch schlicht laufende Fernsehsendungen wiedergeben konnten.

Paik war wohl einer der ersten Künstler, die sich mit dem Umstand befassten, dass das Fernsehen in den sechziger Jahren immer mehr zu einem festen Bestandteil der westlichen Lebenswelt wurde. 1963 legte er im Gartenraum der Wuppertaler Galerie Parnass zwölf Fernseher aus, deren Bilder von den Besuchern über einen Fussschalter individuell verfremdet werden konnten. Mit seinem Schlachtruf «Das Fernsehen hat uns ein Leben lang attackiert - jetzt schlagen wir zurück!» setzte sich Paik für einen rigorosen «Missbrauch» des Mediums ein und legte damit den Grundstein für die Arbeit vieler Künstler, die sich heute damit beschäftigen, Fernsehbilder auf alle denkbaren Arten zu bearbeiten.

Gebrauch und Missbrauch

Die Mischung aus dem Gebrauch, ja der Erfindung neuer Technologien und ihrem «Missbrauch» zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Werk von Nam June Paik. Zur gleichen Zeit wie die bekannten Videoskulpturen mit ihren schnell und farbig dahinrauschenden Bildern entstehen so auch Arbeiten wie der TV-Buddha von 1974, die den Ereignis-Anspruch des Mediums unterlaufen und die Idee des «Fern-Sehens» parodieren: Eine Videokamera filmt von vorne eine Buddhastatue und überträgt das Bild auf einen Fernsehschirm, der dem Buddha gegenüber aufgestellt ist.

Paiks Liebe zur «antitechnologischen Technologie» prägt auch die Geschichte seines «Robot K 456» mit Baujahr 1964. Erst wurde dieser zweibeinige Roboter als technologisches Wunder vorgeführt, dann als Ruine in einer Kiste ausgestellt. 1982 schliesslich provozierte er, nach einer Generalüberholung, gar den laut Paik «ersten Unfall des 21. Jahrhunderts»: Anlässlich eines Spaziergangs mit seinem Erfinder kollidierte «K 456» mit einem über die New Yorker Madison Avenue brausenden Auto.

Selbst mit seinen siebzig Jahren ist Nam June Paik nach wie vor aktiv - auch wenn er seit einem Schlaganfall vor sechs Jahren an den Rollstuhl gefesselt ist. Sein nächstes Projekt soll, so verriet er amerikanischen Medien, ein Porträt von Hillary Clinton auf einem riesigen Ballon werden. Und wer weiss, vielleicht wird sich Paik dabei wieder an die Devise halten, die er 1993 ausgab: «Wenn zu perfekt, liebe Gott böse!»




erschienen in NZZ, FEUILLETON, 20. Juli 2002