Samuel Herzog

Prophetisches aus der Bonbonnière

Ferdinand Hodlers Landschaften im Kunsthaus Zürich (2004)

In einer eleganten Inszenierung präsentiert das Kunsthaus Zürich mehr als siebzig Landschaften von Ferdinand Hodler. Die Schau formuliert die These, dass sich der Künstler in dieser Gattung mit besonders viel Experimentierfreude ausgedrückt habe.
Gott ist gross - und Ferdinand Hodler sein Prophet. Das ist ein Gedanke, der einem beim Gang durch die gegenwärtige Ausstellung im Kunsthaus Zürich durchaus kommen kann. Ein anderer Gedanke gilt den Hungergefühlen, die da mit jedem Schritt deutlicher an einem nagen - doch die rühren wohl vor allem von den Wänden her, deren Farbe je nach kulinarischer Stimmung eher an sommerliches Pistache oder kühle Minze erinnert. Darauf angerichtet sind mehr als siebzig Landschaften, die der Meister der «Holzfäller», der «Auserwählten» und der «Enttäuschten» zwischen 1871 und seinem Todesjahr 1918 geschaffen hat.

Das «Lächeln» des Künstlers

Die Ausstellung, die im letzten Herbst bereits in Genf zu sehen war (NZZ 6. 9. 04), will in den Landschaften das grosse Experimentierfeld des Künstlers entdecken. Im Unterschied zu den offiziellen Aufträgen - den Wandmalereien, Banknoten, Historienbildern und Porträts - habe sich Hodler bei seinen Landschaften richtig «austoben» können, gab Co-Kurator Tobia Bezzola an der Eröffnung bekannt. «In den Landschaften sehen wir den Künstler lächeln», brachte er die These des Projektes auf ihren poetischen Punkt.
Tatsächlich lassen sich bei den Landschaften wie auch im übrigen Werk zwei verschiedene Phasen unterscheiden: ein kräftiger Realismus in der Frühzeit, symbolistische und jugendstilhafte Züge im späteren Stil. Der Übergang erfolgt etwa ab den frühen 1890er Jahren - zuerst in der Farbe, dann in der Form. Die Ausstellung macht dies in der Abfolge der Räume nachvollziehbar. Eines der besseren Bilder aus der Frühzeit ist sicher der «Buchenwald» von 1885: Das Gemälde gibt den Blick in ein eher dürftiges Wäldchen frei, wo dünne Stämmchen wie Skelette durch den Winter klappern - ein äusserst verwirrendes, wegen seiner sturen Detailliertheit fast abstraktes Allover magerer Ästchen, das an Pollock denken lässt. In den 1890er Jahren versucht Hodler den Anstrengungen des Naturalismus zunächst durch einen leicht psychedelischen Umgang mit der Farbe zu entkommen: «Am Fuss des Petit Salève» (1893) etwa hat der Künstler den Felsen in einem Violett gesehen, dem Kirchners expressionistischer Alpen-Kolorit nicht viel hinzufügen kann.
Ein paar Jahre später haben dann auch die Formen die Ketten abgeschüttelt, mit denen der Naturalismus die sichtbare Welt fesseln wollte. Am «Thunersee von Leissingen aus» (1904) wölben sich die Wolken gehorsam so, dass sie mit der Biegung des Ufers zusammen ein grosses, liegendes Oval beschreiben. Ein Jahr später wird die Oberfläche des «Thunersees mit Symmetrischer Spiegelung» in einer Weise von Wellen gekräuselt, dass die Welt in eine Reihe von Schichten zerfällt. 1909 wird der gleiche See nochmals benutzt, um die Wolken darüber und die Berg-Dreiecke zu spiegeln und die Welt akkurat zu verdoppeln.
Dreieck und Pyramide, das sind nebst dem liegenden Oval die grundlegenden Formen, die fast alle Landschaftsbilder von Hodler nach 1900 mehr oder weniger stark bestimmen. Und immer finden sich die Geschehnisse im Himmel auf die eine oder andere Weise in den Ausformungen der Erde gespiegelt. So zum Beispiel in einer Version des «Niesen» von 1910: Über dem gleichschenkligen Dreieck des Berges hat Hodler einen wahrhaft trunkenen Wolkentanz inszeniert - die Formen finden indes eine Entsprechung in dem Dunst, der vom Boden her aufzusteigen scheint.
Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass viele der Figuren, die Nebel oder auch Wasser bei Hodler beschreiben, eher an Geschehnisse unter dem Mikroskop denn an Formen in der Makronatur erinnern. Immerhin ist Hodler unter den Malern der Verschränkungsspezialist par excellence: Himmel und Erde, Mensch und Natur, Makrokosmos und Mikrokosmos, alles steht bei ihm immer unübersehbar in einer geometrischen Beziehung zueinander - alles verläuft parallel. Hodler war Theosoph - und wenn er mit seinen Bildern die Parallelitäten zwischen den verschiedensten Erscheinungen der Natur herausarbeitet, dann legt er damit immer auch malerisch Zeugnis ab von dem göttlichen Urprinzip, das allem zugrunde liegt. «Hodler zwingt die Berner Alpen ebenso, sich aufzustellen, wie die Modelle in seinem Atelier», fasst Bezzola zusammen. Dazu passen auch die knackigen Grün- und Blautöne, das zimtene Rot und das pudrige Weiss in seinen Bildern. Wen erstaunt es da, dass wir uns im Zürcher Bührlesaal manchmal vorkommen, als wandelten wir auf den Spuren eines Propheten durch ein visuelles Bonbon-Paradies.
Doch das ist natürlich nur ein Teil der Geschichte. Auch wenn uns Hodler vielleicht einerseits beibringen möchte, dass Gott im Grunde alles geometrisch gemeint hat, dann schreibt er sich mit seiner formalen Massregelung der Natur doch auch in die heroische Frühgeschichte der modernen Malerei ein. Hodlers Haltung war (wie die von Mondrian) wohl durchaus vom letztlich platonischen Glauben an eine wirklichere Welt hinter den sichtbaren Scheinbarkeiten des Alltags bestimmt: Aus den formalen Verarbeitungen solcher Überzeugungen aber sind Werke entstanden, die wesentlich zur Entwicklung der abstrakten Kunst beigetragen haben - wenige Ausstellungen haben das so eindrücklich illustriert wir vor einigen Jahren die Schau mit Hodler und Mondrian im Kunsthaus Aarau.

Schwan mit Schwierigkeiten

Diesbezüglich bringt die Zürcher Schau also keine neuen Erkenntnisse. Doch wie steht es um die These, dass der Künstler in den Landschaften seine frechsten Lösungen gefunden habe? Die Antwort fällt nicht leicht. Denn vielleicht haben wir ja bei einem Star wie Hodler die Tendenz, formal misslungene Kompositionen als besonders originelle Arbeiten anzusehen. Nehmen wir die «Jungfrau über dem Nebelmeer» von 1908: Oben sehen wir die Jungfrau, ein Dreieck natürlich, den grössten Teil des Bildes aber füllt ein ziemlich grob gemalter Nebel, in dem sich vage irgendwelche Figuren erahnen lassen. Oder nehmen wir die «Landschaft bei Caux mit aufsteigenden Wolken» von 1917: Hier wird eine sehr undifferenzierte Landschaft von kleinen Wolkengebilden heimgesucht, die wie Augenwürmer durch den Bildraum schwimmen. Kompositorischer Patzer? Mutiges Experiment?
Oder nehmen wir noch den «Genfersee mit Mont-Blanc in der Morgendämmerung» von 1918: Mit schnellen Strichen sind hier der Dämmerungshimmel, die Bergkette und das spiegelglatte Wasser in parallelen Schichten in das Panoramaformat montiert. Das wirkt gekonnt. An den sechs regelmässig über den Vordergrund verteilten Schwänen indes hat der Künstler sichtbar lange und eher erfolglos herumgemalt. Oder sollten wir auch hier eine theosophische Botschaft erkennen? Vielleicht hat sich Hodler in den Landschaften wirklich «ausgetobt» - dann aber dürfen wir uns beim Betrachten sicher auch ein paar Freiheiten gönnen: Schliesslich muss uns ja nicht alles schmecken, auch wenn es wie hier im Bührlesaal in einer edlen Konfektschachtel gereicht wird.


Ferdinand Hodler: «Landschaft bei Caux mit aufsteigenden Wolken», 1917. (Bild Katalog)
© Pro Litteris


erschienen in NZZ, FEUILLETON, 6. März 2004 Nr. 55 45