Samuel Herzog

Unstillbar

Carl Frederik Hill in Wien (2003)

Halb Löwe, halb Pferd, halb Ausgeburt einer Hölle, halb Figuration omnipotenter Phantasien, beugt sich da ein Wesen über einen ergeben oder vielleicht auch eher leblos ausgestreckten Frauenkörper, dringt in ihn ein mit seinem Geschlecht und seiner roten Schlangenzunge. Die Zeichnungen, die der schwedische Künstler Carl Frederik Hill (1849-1911) in den Jahren seines schweren psychischen Leidens schuf, sind stets voller Gegensätze, die sich nicht nur in den Motiven selbst, sondern auch in den Bewegungen des Stiftes auszudrücken scheinen: Da brechen harmonische Schraffuren plötzlich in ein unbeherrschtes Zittern der Linien aus, legen sich düstere Einkerbungen vor lichte Farbflächen. Erotische Phantasien und unheimliche Ahnungen, überschwängliche Momente und beklemmende Zweifel scheinen sich da in rasender Geschwindigkeit abzuwechseln. Von all diesen Erregungen legen die Blätter Zeugnis ab, die derzeit in der Wiener Bawag Foundation zu sehen sind.
Im Unterschied zu Edvard Munch, in dessen Werken Grundmotive wie Liebe, Tod, Angst oder Geschlechterkampf zu deutlichen und für jeden erkennbaren Chiffren werden, bleiben die Bedingungen menschlicher Existenz bei Hill verwirrend unfassbar. Sie lassen sich nicht wie bei Munch auf den Punkt bringen, sondern scheinen unentflechtbar und widersprüchlich - weniger das Resultat eines Darstellungswillens denn Ergebnis einer laufenden Überforderung durch die alltägliche Erfahrung der Welt und der eigenen Wünsche und Begierden. In Wien sind nebst zahlreichen Zeichnungen auch ein paar Gemälde zu sehen, die Hill vor seiner Erkrankung im Alter von 28 Jahren schuf: zarte Landschaften aus der Gegend um Paris, diskret mit erzählerischen Momenten versehen. Berührende Bilder insgesamt, die von einer unstillbaren Sehnsucht nach der Welt zu berichten scheinen.





erschienen in NZZ, FEUILLETON, 18. März 2003 Nr. 64 57