Samuel Herzog

Auch ein Löwe hat mal Angst

Eugène Delacroix in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (2004)

Mit Eugène Delacroix feiert die Kunsthalle Karlsruhe eine der markantesten Künstlerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts - einen Maler mit viel Sinn für Dramatik und einer gewissen Liebe zum Widersprüchlichen, wie nicht nur die Biografie des Franzosen, sondern auch ein Blick auf viele seiner Werke illustriert.

Natürlich ist der Löwe auch bei Eugène Ferdinand Victor Delacroix (1798-1863) ein Kraftprotz, stolz und gefährlich unberechenbar. Immer wieder hat der Malerfürst aus Paris den König der Tiere aus Afrika so porträtiert - mal vor seiner Höhle, mal im Kampf mit einem Tiger, mal beim Verzehr einer indischen Dienstmagd. Doch so erhaben der Löwe auch sein mag - ganz frei von Angst ist er nicht. Nehmen wir zum Beispiel das Ölgemälde «Le lion et le serpent» aus dem Jahr 1856: Mit Wucht hat da ein Löwenmännchen seine Pranken auf eine Schlange gesetzt, die sich vor ihm am Boden windet. Zwar dürfen wir annehmen, dass es der Löwe ist, der aus diesem Kampf als Sieger hervorgehen wird - die Anspannung seiner Muskeln aber verrät, dass er sich seiner Sache nicht ganz sicher ist. Zu flink und zu schwer greifbar scheint der Körper der Schlange, zu bedrohlich ihr Gift. Das Gefühl für diese Gefahr hat sich jeder Muskelfaser des Löwen eingeschrieben, der in jedem Moment bereit scheint, zurückzuzucken, von seiner Beute abzulassen.
Klassische Ideale
Genau diese Ambivalenz macht auch den ganzen Reiz dieses Blattes aus: Sie gestattet es dem Betrachter, für einen Moment in die Haut des Löwen zu schlüpfen, zu spüren, wie er all seinen Muskeln zum Trotz hier vom kalten Hauch einer panischen Angst gestreift wird, die irgendwo mitten in seiner überwältigenden Kraft auf der Lauer liegt. Und wer weiss, vielleicht vergisst er ja im nächsten Moment, dass er der König aller Tiere ist, und stiebt heulend davon - ein verschrecktes Schosshündchen, ein Schoss-Löwe sozusagen.
Einige von Delacroix' Löwen-Variationen sind derzeit auch im Rahmen einer Ausstellung in der Kunsthalle Karlsruhe zu sehen, die mit mehr als 200 Leihgaben einen grosszügigen Einblick in das Werk dieses Malers gibt, der als die zentrale Künstlerpersönlichkeit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und als der Historienmaler schlechthin gelten kann. Zwar fehlen in der Ausstellung einige der bekanntesten Werke des Franzosen: So berühmte Tafeln wie «Le massacre de Chios», die «Liberté guidant le peuple» oder «La mort de Sardanàpa» haben den Weg nach Karlsruhe nicht gefunden. Trotzdem gelingt es der Ausstellung, über sorgfältig zusammengestellte Werkgruppen und auch mit Hilfe von liebevollen Kurztexten zu sämtlichen Exponaten einen durchaus informativen Einblick in das Werk von Delacroix zu geben. Durchwegs ist die Schau darauf bedacht, die Vielfältigkeit dieses Malers herauszustreichen - und macht dabei auch Widersprüchliches sichtbar.
So tief nämlich Delacroix in der Romantik mit ihren heftigen Emotionen verwurzelt war, sah er sich doch gleichzeitig auch den Idealen des Klassizismus verpflichtet: Er wollte leidenschaftlich sein und dabei doch die Übersicht bewahren. Einerseits verachtete er zwar die kühlen Historienschinken eines Jacques-Louis David oder die lendenfreudigen Orientphantasien, wie sie dessen Schüler Ingres auf die Leinwand bannte. Andererseits aber strebte auch Delacroix nach kompositorischer Harmonie, ist auch seine Kunst von einem Bildungsbürger für ein mit demselben Rohrstock erzogenes Publikum geschaffen, huldigt auch er hauptsächlich den grossen Momenten aus Geschichte und Mythologie, den Höhepunkten des menschlichen Schicksals. Einerseits sah sich Delacroix ja auch ganz in der Tradition der alten Meister - die Zeichnungen von Goya und Rubens etwa hatten es ihm angetan. Andererseits war er aber vor allem wegen seiner leuchtenden Farben auch ein Vorreiter der Impressionisten und wurde von Monet, Manet, Fantin-Latour oder Degas wie eine Kultfigur verehrt. Cézanne arbeitete gar an einer «Apothéose de Delacroix» und betonte, dass dieser ein wirklich moderner Maler sei, weil er Gefühle durch Farben zum Ausdruck bringe. - Kurz gesagt erscheint Delacroix als eine Figur, die sehr verschiedene, manchmal auch widersprüchliche Tendenzen in sich vereinte. Und genau das finden wir auch in vielen seiner Werke wieder. Auch da treffen wir oft - wie schon bei der eingangs beschriebenen Szene mit dem Löwen und der Schlange - auf prekäre Momente, in denen eine Situation in eine ganz andere umzuschlagen droht: Da wird der Angriff zur Flucht, dort kommt die Bewegung zum Stillstand, da werden Verlorene plötzlich doch noch gerettet, dort werden aus Jägern unvermittelt Gejagte, oder aber es bricht ins Harmonische das Katastrophale ein - und umgekehrt.
Der richtige Moment
Nehmen wir zum Beispiel das Gemälde «Fantasia arabe» von 1833. Es entstand im Anschluss an Delacroix' Marokkoreise von 1832, die für den Künstler ausserordentlich prägend war. Die Fantasia ist ein arabisches Spektakel, in dessen Verlauf bewaffnete Reiter ihre Geschicklichkeit zeigen: Erst preschen sie mit atemberaubender Geschwindigkeit auf einen nur in der Phantasie sichtbaren Gegner zu, dann schiessen sie in die Luft, um kurz darauf - der heikelste Moment des ganzen Spektakels - abrupt ihre Pferde herumzureissen. Delacroix stellt genau jenen Moment kurz vor dem waghalsigen Wendemanöver dar: Noch fliegen die Reiter von rechts nach links durchs Bild, doch deutet sich in der Haltung des einen Pferdes bereits eine Gegenbewegung an. Ähnliches interessiert Delacroix wohl auch bei einem «Tiger, im Lauf anhaltend». Hier resultiert die Spannung daraus, dass es ja ausserhalb des Bildes etwas geben muss, das den Tiger dazu gebracht hat, plötzlich stehenzubleiben - ähnlich wie bei einer Fantasia bleibt auch bei der Radierung mit dem Tiger das Motiv für den abrupten Wechsel unsichtbar. Ja bei dem Tiger können wir gar auf die Idee kommen, dass es vielleicht wir selbst sind, die da als Beobachter-Jäger vielleicht mittels unserer Ausdünstung die Aufmerksamkeit des Tieres geweckt haben.
Ein wesentlicher Reiz von Delacroix' Kunst resultiert daraus, dass er ein gutes Gespür für den besonderen Moment hat. Und zwar wählt er meist Situationen, in denen die Dinge noch nicht entschieden sind - oder besser gesagt: Delacroix stellt Situationen gerne so dar, als wären sie noch nicht entschieden. Nehmen wir zum Beispiel die «Löwenjagd» in der Version von 1861. Eine Löwenjagd wird von Menschen wohl generell in der Absicht unternommen, den Löwen zur Strecke zu bringen - und dies dürfte ihnen angesichts ihrer technischen Überlegenheit in aller Regel auch mehr oder weniger pannenfrei gelingen. Delacroix indes stellt eigentlich gar keine Löwenjagd dar, sondern vielmehr ein wüstes Gemetzel zwischen Menschen und Tieren. Ein Scharmützel der Klingen und Krallen, dessen Ausgang mehr als unsicher scheint. Eine zusätzliche Dramatisierung erfährt die Situation durch Delacroix' Einsatz der Farben: Vor einem düster-grauen Hintergrund und unter einem mit Gewitterwolken verhangenen Himmel stürzen sich die Männer alternierend in weissen und leuchtend roten Gewändern auf die Tiere - als wäre nicht ohnehin klar, dass es hier für alle um Leben und Tod geht.




erschienen in NZZ, FEUILLETON, 10. Januar 2004 Nr. 7 45