Samuel Herzog

Zwischenmahlzeiten

Sophie Calle im Centre Pompidou (2004)

Eigentlich haben wir es immer schon geahnt. Im Museum, wo uns die gezeigten Kunstwerke doch auch manchmal etwas langweilen, beobachten wir zwischendurch ja ganz gerne, wie andere die schwierige Aufgabe des Kunstgenusses meistern. Da gibt es jene, die wie von einem unsichtbaren Teufel gehetzt durch die Ausstellungsräume rasen: Dann und wann bremsen sie abrupt, runzeln die Stirn, als hätten sie in eine allzu heisse Wurst gebissen, und rasen sofort weiter. Andere lassen sich an den Exponaten vorbeitreiben wie Fische, für welche die Welt vor dem Glas ihres Aquariums auf immer ein Mysterium bleiben wird. Dritte scheinen von den Kunstwerken in eine Art Trance versetzt, hören sie doch nicht auf, sich gedankenverloren am Kinn oder Gesäss zu kratzen, in der Nase zu bohren oder mit dem Fingernagel kleine Fleischstückchen zwischen den Zähnen hervorzustochern.
Aber eben, wir haben es immer schon geahnt, dass diese ästhetischen Zwischenmahlzeiten wohl nicht allein unser Vergnügen sind, dass auch wir selbst als Ausstellungsbesucher immer gleichzeitig Ausstellungsgut darstellen. Die französische Künstlerin Sophie Calle nun macht aus diesem Verdacht eine Gewissheit und ein eigenes Projekt. In Paris nämlich beobachtet sie derzeit die Besucher ihrer Ausstellung «M'as-tu vue?» im Centre Pompidou. Im Rahmen dieser Schau zeigt die Künstlerin verschiedene Werke der letzten zwanzig Jahre wie etwa «Voyage en Californie» - die abenteuerliche Reise ihres Bettes von Frankreich nach Amerika und zurück. Mit «Les Dormeurs» gibt es in Paris auch eine der frühesten Arbeiten von Calle zu sehen: Für dieses Projekt forderte sie Bekannte und Unbekannte auf, sich für jeweilen acht Stunden in ihrem Bett aufzuhalten. Erstmals wird im Pompidou auch der Zyklus «Douleur exquise» öffentlich präsentiert - die konzeptuelle und ausserordentlich poetische Verarbeitung einer Trennung, die von der Künstlerin als der schmerzhafteste Moment ihres Lebens empfunden wurde.
Ganz am Ende der Ausstellung erst erfahren wir dann von der erwähnten Besucher-Beobachtung. Dazu anregen liess sich die Künstlerin durch das mysteriöse Schicksal einer Museumsaufseherin namens Bénédicte, die im Februar 2000 spurlos verschwand. Calle wollte wissen, wer diese junge Frau war: Befragungen im Umfeld dieser Bénédicte ergaben, dass diese ihren Beruf dazu nutzen wollte, das Verhalten der Besucher im Museum zu studieren. Dieses Vorhaben führt nun die Künstlerin selber aus. Auch das ist ein Weg, wie das Kunstwerk plötzlich die Augen aufschlagen kann.
Sophie Calle. M'as-tu vue? Centre Pompidou, Paris. Bis 15. März. Katalog _ 49.90.
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erschienen in NZZ, LITERATUR UND KUNST, 14. Februar 2004 Nr. 37 62