Samuel Herzog

Den Bogen überspannen

Louise Bourgeois im Kunsthaus Bregenz (2003)

Um Louise Bourgeois kommt in diesem Sommer kein Auge herum. Nach Zürich, Luzern und Kassel widmet ihr nun auch Bregenz eine grosse Schau: Da bietet es sich an, das psychoanalytische Besteck auszupacken - doch mit welchem Gewinn?

Von einer solchen Tension hat wohl nicht bloss jeder Mann schon einmal geträumt: Eine Nadel, mehr als mannshoch, aufs Äusserste zum Bogen gespannt. Durch das Nadelöhr ist das Ende eines crèmefarbenen Seils gezogen, dessen langer Rest sich am Boden wie ein Ankertau kringelt: entern, schleudern, schiessen. Als wäre das Bild nicht ohnehin explizit genug, liegen nebst der Nadel noch zwei eiförmige Steine am Boden.

Das ist gewalttätig, das ist komödiantisch, das ist Louise Bourgeois - und an ihr führt derzeit kaum ein Weg der Kunst vorbei. Im Juni hat sie in der Zürcher Galerie Hauser & Wirth ihre Marmorskulpturen gezeigt (NZZ 1. 6. 02), im Kunstmuseum Luzern liefert sie mit einer Reihe ihrer «Zellen» noch bis Ende September den gewichtigsten Beitrag zu der Ausstellung «Bettgeschichten» (NZZ 22. 6. 02), und auch auf der Documenta in Kassel ist sie mit einem phallisch-vaginal-mythischen Grossspektakel präsent. Noch mehr Bourgeois gibt es jetzt im Kunsthaus Bregenz zu sehen, wo die 91-jährige Künstlerin die vier lichten Stockwerke mit gut hundert Zeichnungen und rund zwanzig Skulpturen und Ob-jekten bespielt - wie man in diesem Fall wohl wirklich sagen darf, denn bei dem ganzen heiligen Geschlechter-Ernst haben ihre Arbeiten auch immer etwas Spielerisches an sich, etwas, das uns mit einem Harlekin-Grinsen in unsere eigenen Geschichten entführt. Das mag daran liegen, dass sie den Bogen eben nicht nur spannt, sondern regelmässig überspannt.

Bleiben wir bei der «Needle (Fuseau)» von 1992, diesem Element aus dem femininen Nähkästchen, dass da zur gigantischen Samenschleuder umgedeutet wurde. Wer vor dem Bogen steht, der fühlt sich unvermittelt ein wenig unwohl, bedroht - hinter dem Bogen indes kann man nicht umhin, gewisser mächtig-männlicher Empfindungen gewahr zu werden. Phantasien mögen da eine Rolle spielen, die in unserem Kinderleben noch etwas deutlicher zum Ausdruck kamen, als wir mit Spielzeug-Winchester auf dem Gartenzaun der Nachbarn gegen Banditen zu Felde ritten. Hier, bei Louise Bourgeois, dürfen wir wohl dazu stehen, dass wir diese Gefühle noch nicht restlos im Griff haben, dass in uns das Kind mit seinen unmässigen sexuellen Wünschen immer noch gelegentlich mit der Winchester fuchtelt.

Natürlich aber geht es hier auch um durchaus schlimme Dinge. Schliesslich entsteht die Kunst der Louise Bourgeois aus Schuldgefühlen heraus, wie sie selber sagt - hätte ihr Vater doch an jenem Weihnachtstag 1911, als die kleine Louise zur Welt kam, lieber eine männlich besetzte Krippe gesehen. Diesem Vater galt es die Macht zu nehmen, ihm das Geschlecht zu entreissen - was Bourgeois nicht nur mit der Nadel, sondern mit ganz vielen ihrer Plastiken ja immer wieder getan hat. «Destruction of the father - Reconstruction of the father» heisst ein Buch mit Texten und Interviews der Künstlerin. Nebst dem re-konstruierten und appropriierten Vater nimmt in Bregenz auch die Mutter ihren Platz ein und demonstriert als unmässig grosse Spinne schon im untersten Geschoss unübersehbar ihre Unverzichtbarkeit - «L'Indispensable» hiess eine der zahlreichen Spinnenfiguren, die Bourgeois ihrer Mutter oder vielleicht vielmehr dem mütterlichen Prinzip gewidmet hat.

Was auch immer die Bourgeois tut, stets gibt es viel zu deuten: Das Verhältnis der Geschlechter, die Angst, die Scham, die eigene Sexualität und die der anderen, der Traum, die Macht, die Lust, die Ohnmacht... Da darf sich der psychoanalytische Blick austoben - was auch immer Mann und Frau von Freud oder Fromm, Jung oder Reich gelesen haben, fast alles lässt sich hier anwenden. Und doch fördert man mit analytischem Operationsbesteck aus den Arbeiten der Bourgeois meist nur langweilige biographische Skizzen oder psychotheoretische Trockenübungen hervor. Denn wer an der Hand von Grossvater Freud durch eine Bourgeois-Ausstellung schlendert, der zersäbelt sich mit seiner interpretatorischen Schärfe das eigene Erleben. Und für dieses Erleben gibt es in der äusserst luftigen Bregenzer Schau auch wirklich Platz genug - Schamröte braucht also nicht zu fürchten, wer sich hier auf Nachbars Gartenzaun fühlt.


erschienen in Neue Zürcher Zeitung, Feuilleton, 10. August 2002