Samuel Herzog

Ein fortwährendes Auf und Ab

Matthew Barneys «Cremaster Cycle» in Paris (2002)

Von Beginn weg ist klar: Hier sind wir im Bild. Auf der grossen Treppe, die zu den Ausstellungsräumen im Obergeschoss des Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris führt, ist eine Pfeilform ausgelegt, die uns hineinkatapultiert in die Welt des Matthew Barney. Von da an sind wir, ist alles Teil dieser Welt - sogar die Aufseher, die wegen des stellenweise grellen Lichts mit Sonnenbrillen durch die Säle streifen, wirken wie Agenten im Auftrag des Künstlers.
Nachdem Barney seinen «Cremaster Cycle» in diesem Sommer in Köln gezeigt hatte (NZZ 27. 6. 02), durfte man gespannt sein, wie er die fünf Filme und die diversen Photographien und Plastiken, Requisiten, Symbole, Labels und Fahnen nun in Paris inszenieren würde. War man in Köln noch ein Besucher, der sich dann und wann wieder in eine gewisse Distanz entlassen, zwischen den Objekten bewegen konnte, so wird man in Paris gänzlich zu einem Mitspieler. Denn die Bildschirme, über die einzelne Episoden des Zyklus flimmern, sind so arrangiert, dass sie stets Teil sind von Bühnen, auf denen sich die Besucher notgedrungen wiederfinden: So treten wir etwa aus einem eher dunklen Raum durch ein breites Tor in einen helleren Saal und sehen uns Dutzenden von Augenpaaren gegenüber, die uns vermeintlich anstarren. Hier sind die Bildschirme unmittelbar über dem Durchgang montiert, in anderen Sälen sind sie so in die Raummitte geschoben, dass sie von den Schaulustigen regelrecht umlagert werden. So gelangen wir von Bühne zu Bühne, wechseln wir von Set zu Set.
Mehrere Stunden Film gibt es in dieser Ausstellung zu sehen - und das hat, wie immer in solchen Fällen, Auswirkungen auf das Verhalten der Besucher. Erst stehen sie, dann lehnen sie an der Wand, dann kauern sie, dann sitzen sie, und hat es ihnen der Film auch wirklich angetan, dann liegen sie schliesslich am Boden. Auch das, so scheint es, hat Barney vorausgesehen und die Requisiten und anderen Objekte nicht auf Sockel gestellt, sondern über seine Teppiche aus Astroturf verteilt. Da dreht sich ein goldener Sattel auf Kniehöhe, dort drohen wir über Kartoffeln, Stoffbahnen oder Vaseline-Objekte zu stolpern.
Diese Ausstellung kann nur schwer in aufrechter Haltung durchschritten werden, vielmehr bewegt sich der Körper in einem fortwährenden Auf und Ab durch die Räume, lehnt sich mal an, legt sich mal hin und rappelt sich wieder hoch. Das wiederum macht deutlich, dass wir hier als bewegliche Teile eines Gesamtbildes durchaus eingeplant sind: Auch die Protagonisten in Barneys Filmen nämlich bewegen sich oft in ähnlicher Weise, sei es, dass sie klettern, sich irgendwo hineinzwängen oder herauskriechen . . . «Cremaster» heisst dieses Gesamtkunstwerk von Matthew Barney. Es ist also nach jenem kleinen Muskel benannt, der in Reaktion auf äussere Stimuli wie Angst oder Kälte dafür sorgt, dass sich die Hoden heben oder senken. Auch daran kann man denken, wenn man sich mit dem Rücken zur Wand in die Hocke gleiten lässt. Wir sind wirklich im Bild.


erschienen in Neue Zürcher Zeitung, Feuilleton, 24. Dezember 2002 Nr. 299 46