Samuel Herzog

Ein Fenster ohne Aussicht

Darren Almond im Lentos-Kunstmuseum Linz (2004)

Im Rahmen seiner ersten Einzelausstellung in Österreich lässt der Brite Darren Almond Bilder und Geräusche aus der Linzer Strafanstalt in die Räume des Lentos-Kunstmuseums übertragen. Die Installation wirkt überaus kühl - und etwas rätselhaft.
Gelangt ein Kunstwerk erst einmal in die Sammlung eines Museums, so bekommt es «lebenslänglich» - zumal es nur sehr selten passiert, dass öffentliche Institutionen ihre Besitztümer wieder hergeben. Auch die Besucher eines Museums können sich dann und wann wie Gefangene vorkommen - sind doch auch die Museumsfenster oft vergittert und die Benimmregeln streng. Das Museum ist ein Raum der Stille und der mehr oder weniger freiwilligen Einkehr, eine Zeitzone mit eigenen Gesetzen. Gleiches liesse sich auch über ein Gefängnis formulieren, wo alle Aufregungen des Alltags durch die Strukturen der Institution künstlich eingerüstet sind. Ausserdem sind Museum wie Gefängnis Orte, wo nichts unbeobachtet bleibt, wo jeder Winkel durch Überwachungskameras gesichert ist.
Solche Analogien drängen sich derzeit vor allem den Besuchern des Lentos-Kunstmuseums in Linz auf. Der längliche Hauptsaal im Obergeschoss des Hauses ist in zwei parallele Raumfluchten unterteilt. Links herrscht eine klassische Museumsstimmung vor: Auf schneeweissen Wänden, akkurat beleuchtet, reihen sich vorrangig expressionistische Bilder - es ist die Sammlungspräsentation, mit der sich Peter Baum als Direktor des Lentos verabschiedet hat. Rechts hat Stella Rollig, die neue Leiterin des Hauses, dem britischen Künstler Darren Almond (geb. 1971) eine Plattform geboten. Hier sind die Wände in einem düsteren Grau gehalten, herrscht eine überaus kühle Stimmung vor.

«Lebenslänglich»

«Live Sentence» heisst die Installation, die Darren Almond für das Linzer Museum entwickelt hat. Zuerst trifft der Besucher auf eine gigantische, schwarz lackierte Digitaluhr: Mit viel Lärm stellt ein pneumatisches System die Zahlen von Minute zu Minute um. Folgt man der Kuratorin, so weist uns der Künstler mit solchen selbst entworfenen Zeitmessern «auf das Hier und Jetzt der Erfahrung hin». Vor allem das Geräusch, das die Stossdämpfer dieser Uhr produzieren, erinnert aber auch an mechanische Schliessanlagen, wie sie sich in Tresorräumen oder eben in Gefängnissen finden.
Und das passt ganz gut zu dem, was uns in der Raumflucht hinter der grossen Uhr erwartet. Fast etwas fröstelnd im grauen Halbdunkel schreiten wir an fünf grossen Leinwänden vorbei, auf die Videoaufnahmen aus einer Linzer Justizanstalt projiziert sind. Auf einen ersten Blick sind es Bilder, wie sie von Überwachungskameras stammen könnten. Dann aber stellen sich Zweifel ein - ist der «Überwachungswert» einzelner Einstellungen doch nicht allzu hoch: Da sehen wir bloss ein Badetuch, das sorgsam gefaltet auf dem Rand eines Waschbeckens liegt - dort nur den Kopfteil eines Betts mit präzise ausgerichtetem Kissen. Immer wieder scheint es spürbar ein Ästhet und kein Überwachungstaktiker gewesen zu sein, der die Ausrichtung einzelner Kameras bestimmt hat.
So «live» diese Bilder auch wirken: Tatsächlich wurden sie nur während der Eröffnung einige Stunden lang direkt aus der Linzer Justizanstalt übertragen - heute werden Aufnahmen projiziert. Dass nie irgendein Wärter oder ein Insasse zu sehen sein darf, leuchtet aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen ein. Dennoch hat es einen seltsamen Effekt: Ohne Menschen nämlich wirkt diese Justizanstalt wie eine durch und durch künstliche Welt. Manche Bilder erinnern auch an die konstruierten Realitäten von Thomas Demand oder an jene bizarren Kulissen, durch die etwa Jane und Louise Wilson mit ihrer Kamera zu fahren pflegen («Stasi City», «Crawl Space» usw.). - Auch die Tonspur vermittelt kaum mehr als eine Ahnung menschlicher Präsenz: Da geht eine Tür, dort wird ein Schloss betätigt oder mit Geschirr geklappert. Dabei verhallt alles in der Weite von Gängen, die schrecklich leer sein müssen.

«Ausdruck des Unregulierten»

Ganz am Ende der Installation stossen wir dann auf die grossformatige Reproduktion jener Aufnahme eines Fensters in Laycock Abbey, mit der Henry Fox Talbot 1835 der Geschichte der Fotografie ein erstes Bild gab. Vielleicht können wir darin mit der Kuratorin eine Anspielung auf den neuen Kunstbegriff sehen, der in jenen Tagen parallel zur Technik der Fotografie entwickelt wurde: «Kunst als Ausdruck des Unregulierten, des Widerständigen und Freien - damit gleich gesetzt wie die Natur - im Gegensatz zu einer zunehmend als restriktiv empfundenen Gesellschaftsordnung.» Und vielleicht stimmen wir Stella Rollig auch darin zu, dass «Talbots Ausblick in die englische Landschaft für eine frühe Manifestation der Idee von Freiheit steht, deren Entzug mehr als 150 Jahre später die wichtigste Rolle im Strafsystem der Gesellschaftsordnung spielt». Irritierend wird diese Lektüre einzig dadurch, dass es auch vor Talbots Fenster eine Art Gitter zu haben scheint - und viel Aussicht wird wahrlich auch nicht geboten.




erschienen in NZZ Feuilleton, 31. Juli 2004 Nr. 176 42