Samuel Herzog

China als Sitzmöbel

Ai Weiwei in der Kunsthalle Bern

Ein frühlingshaft gerolltes «Nem» oder ein süssliches Rindfleisch, das auf den schönen Namen «Rendang» hört, lösen bei einem durchschnittlichen Mitteleuropäer kaum noch exotische Gefühle aus. Und auch Tai-Chi, Gurgellaute aus dem Tibet und Ginseng-Kapseln sind kaum fremder als Hosenlupf, Alpsegen und Kräuterpastillen aus dem Appenzell. Exotisch aber ist es, wenn einer zwei kostbare Schalen aus der Qing-Dynastie mit einem Hammer zertrümmert. Exotisch ist es auch, wenn eine zweitausend Jahre alte Urne mit dem Logo von Coca-Cola verziert oder eine Tonskulptur aus der Tang-Dynastie in eine Wodkaflasche eingesperrt wird.
Es gibt nur wenige Künstler, die uns so systematisch mit Befremdlichem konfrontieren wie der 1957 in Peking geborene Ai Weiwei. Zu einem grossen Teil in New York ausgebildet, kennt sich der bärtige Chinese mit den Diskursen, Ängsten und Wertvorstellungen des Westens aus. Und er weiss den Umstand klug zu nutzen, dass man die Dinge in China möglicherweise etwas anders sieht als hier bei uns. Dabei spielt er nicht einfach die Verführungskraft des Exotischen aus, sondern zielt gekonnt darauf ab, unseren Blick auf Selbstverständlichkeiten zu verschieben.
Nun hat die Kunsthalle Bern dem Chinesen erstmals in der Schweiz eine Einzelausstellung eingerichtet. Im Erdgeschoss treffen wir auf eine ganze Reihe von «Maps of China» - Skulpturen von unterschiedlichem Umfang, deren Umrisse die Landkarte von China beschreiben. Diese Plastiken, die teilweise auch als Sitzmöbel verwendet werden dürfen, sind aus kostbarstem Eisenholz gefertigt, das aus südchinesischen Tempeln stammen soll - will man den Angaben des Künstlers folgen, so wurden diese Gebäude abgerissen, weil sie für den Tourismus ohne Interesse sind. Aus Antiquitäten sind auch die Möbelskulpturen gefertigt, die der Künstler im Hauptraum zeigt: Da muss zum Beispiel ein Tisch zwei seiner Beine gegen die Wand stemmen, um das Gleichgewicht zu halten. Der Eingriff des Künstlers hat hier einem Alltagsgegenstand die Funktion genommen, eine Antiquität in eine autonome Skulptur verwandelt.
Im Untergeschoss treffen wir auf eine Sammlung von 3600 Steinwerkzeugen aus der Zeit zwischen dem späten Neolithikum und der Shang-Dynastie (10 000 v. Chr. bis 11. n. Chr.). Mit Akribie und wissenschaftlich anmutender Systematik sind die Werkzeuge auf dem Boden zu einem raumfüllenden «Stillleben» ausgelegt. Ob diese antiken Kostbarkeiten echt sind oder falsch, verrät uns der Künstler nicht. Ganz bestimmt nur eine Imitation aber ist der «Newspaper Reader» Uli Sigg, der davor in Lebensgrösse auf der Treppe sitzt und in einer Zeitschrift einen Artikel über den «Ball der Bosse» liest. Der frühere Botschafter der Schweiz in China besitzt wohl eine der wichtigsten Sammlungen zeitgenössischer Kunst aus dem Reich der Mitte. Ein Porträt des Mäzens als Wächter der chinesischen Antike? Das wirkt exotisch und schreibt sich doch auch in eine westliche Kunsttradition ein, die mindestens bis zu den Medici reicht.



erschienen in NZZ, Feuilleton 5. Mai 2004 Nr. 103 46