Christina Viragh


Was man übersieht

erschienen im Künstlerbuch "dort ausserhalb ", von Flavio Micheli, Memory Cage Verlag Zürich 2000


Spiegel können tödlich tautologisch sein, wie es die Gräfin Amelie in Fontanes Vor dem Sturm merken muss: Eines Abends erblickt sie im Spiegel ihre eigene schwarz gekleidete Gestalt und stirbt vor Schreck. Sie ist selber schuld. Seit Jahren redet sie sich und anderen den Mythos von der Schwarzen Frau ein, und damit ihr diese nicht erscheinen kann, lässt sie Nacht für Nacht den Spiegel verhängen. Als sie
das einmal vergisst, kommt ihr aus dem Spiegel die eigene Wahnvorstellung entgegen. Der bösen Stiefmutter geht es gleich. Ihr wirft der Spiegel an den Kopf, was sie sowieso schon Tag und Nacht beschäftigt, nämlich dass Schneewittchen schöner ist. Auch hier endet die Sache tödlich.
Das brutale Ende ist aber ästhetisch gesehen der günstigere Fall: Wenigstens wird die Reihe der Wiederholungen unterbrochen, und man wird auf die Blindheit sowohl des Spiegels als auch des Betrachters aufmerksam. Spiegel geben alles unbesehen wieder, und meistens übersieht man genau diese Tatsache, wenn man in den Spiegel schaut.
Man sucht Bedeutung, wo nur reines Nachsprechen ist, und auch wenn der Spiegel zu sagen vermag, dass zum Beispiel unser Haar aus der Form geraten ist (aber auch das haben wir ihm vorgesagt), lässt er uns im Dunkeln darüber, ob die schlechte Frisur für unsere momentane Attraktivität irgendeine Rolle spielt. Das ist es, was die böse und vermutlich auch dumme Stiefmutter nicht weiss. Einem Computergläubigen ähnlich empfindet sie das programmierte Programm als Objektivierung ihrer eigenen Subjektivität, in ihrem Fall des Hasses und des Neids, die nun allgemein, im ganzen Land, gültig erscheinen, worauf ihr nur noch das Morden übrig bleibt.
In einem ungarischen Film der siebziger Jahre bereitet sich eine Frau vom
Land wochenlang auf die Reise zu ihrem Sohn in London vor, und kurz bevor
sie ihr Haus verlässt, nimmt sie einen Stock und zertrümmert den Spiegel.
Sie scheint den Aberglauben an die sieben Jahre Unglück, die einen befallen, wenn man einen Spiegel zerbricht, nicht zu kennen oder nicht zu teilen, andererseits scheint ihr aber etwas Ähnliches im Kopf herumzugehen wie der Gräfin Amelie: Der Spiegel soll in ihrer Abwesenheit keine Geister anziehen können.
Eigentlich schade, dass sie ihn kaputtmacht. Für einmal hätte da der Spiegel die Chance gehabt, nicht tautologisch zu sein, etwas zu zeigen, das keiner sehen kann. Aber unsere Logik ist ja vor einem Spiegel verkehrt, das wirklich Interessante wollen wir nicht sehen, uns zieht das allzu Bekannte an. Doch
damit die Tautologie nicht auf uns zurückfällt, reden wir uns ein, die gespiegelten Dinge seien etwas mehr: nicht nur Gesicht, Hand, Stuhl, Lampe, Wand, sondern eine sinnvolle, ästhetisch höher stehende Einheit. Dabei ist das Gegenteil der Fall; denn der Spiegel zeigt die Dinge in ihrer Nichtigkeit:
Was sich beliebig wiederholen lässt, hat keine ästhetische Bedeutung.
Vielleicht haben Spiegelungen nur dann einen Sinn, wenn der Zufall die Hand im Spiel hat, wenn ein Teich einen Berg spiegelt, ein Schaufenster eine Gruppe Japaner, ein Tischbein aus Chromstahl einen Spatzen, wenn weder gesagt noch gefragt wird, was dieser Zusammenhang bedeutet -falls er überhaupt Bedeutung hat.
Diesen zufälligen Zusammenhang festzuhalten ist ein künstlerischer Anspruch, der nur dann nicht daneben greift, wenn er die Zufälligkeit so weit wie möglich intakt lässt: So war das in dem und dem Augenblick, so spiegelte sich die Oberleitung der Strassenbahn in meinem Fenster, als ich es an dem Abend
öffnete, um den Zigarettenrauch hinauszufächeln, ein typischer Augenblick, insofern typisch, als er gleich wieder zerfiel und keine Geste, die ihn zu fixieren versucht, ihn zur Metapher machen wird. Er ist weder symbolisch für die Beständigkeit des Lebens noch für das Zerstörerische der Zeit; er steht nur für sich selbst, in Wortlosigkeit, ohne jede Implikation.
Diese Geste zu wiederholen kann man versuchen, in Bildern, Worten, in Musik, aber nur dann wird die Wiederholung des unwiederholbaren Augenblicks gelingen, wenn sich keines dieser Medien als Spiegel versteht. Wenn uns hingegen Bilder, Wörter oder Töne zu zeigen vermögen, was wir gerne übersehen, nämlich dass sich die Konstellationen des Lebens nicht immer nur auf uns selber zuspitzen, sondern jenseits aller Tautologie in einer fortwährenden, nicht zu deutenden Bewegung sind, dann haben sie uns etwas nahegebracht, das wir auf keine andere Art erfassen könnten, und so werden sie zu Mitteilung.


"Was man übersieht" von Christina Viragh, erschienen im Künstlerbuch "dort ausserhalb"
von Flavio Micheli, Memory Cage Verlag Zürich 2000