Christoph Doswald
P i P P o P II
Die Diskussion von partikulären Phänomenen ist
ein Charakteristikum zeitgenössischer Kunst. Nur wenige Künstlerinnen
und Künstler arbeiten mit einem ganzheitlichen Anspruch, versuchen
der Zersplitterung der Lebenswelt eine integrales Modell entgegenzuhalten.
Pipilotti Rist zählt zu dieser Minderheit. Ihre Arbeiten verdichten
die Erfahrungen des Medienalltags und die damit verbundene Bildernormierung,
thematisieren das eigene Frausein ohne in der Schublade "Frauenkunst"
zu landen, interpretieren die zeitgeistige Ich-Bezogenheit aus einem augenzwinkernd-gescheiten
Blickwinkel. Im Zusammenspiel einer eigenständigen, der Pop-Aesthetik
entlehnten Bildsprache mit wortwitzigen Text- und Gesangsfragmenten verweben
sich die einzelnen Erzähl- und Bildstränge ihrer Arbeiten zu einer
polyvalenten und doch homogenen Gesamtheit.
Fernsehmonitore gehören zum Mobiliar der menschlichen
Behausung wie das Amen zu Kirche. Satellitentechnik und elektronische Datennetze
haben die Vision von Marshall McLuhan Wirklichkeit werden lassen: die Welt
ist ein globales Dorf, das Medium Fernsehen gewissermassen die örtliche
Religion, der Monitor ihr Hausaltar. Diese Gleichschaltung hängt nicht
nur mit der Zentralisierung von Informationsvermittlung und Unterhaltung
zusammen, sondern auch mit einer kanonisierten Fernsehästhetik. Kaum
ein anderes Medium blieb inhaltlich wie physisch derart normiert, blieb
seit seiner Erfindung nichts anderes als das, was es schon immer war: ein
rechteckiger Kasten, welcher den Rahmen für eine leicht konvexe Glaschscheibe
bildet. Im Gegensatz zur Kinoleinwand, welche sich am Seh-Horizont des
menschlichen Auges orientiert, konditioniert die Kleinheit des televisionären
Bildschirms den Blickwinkel, fokussiert das Auge für Stunden auf eine
wenige Quadratzentimeter kleine Fläche.
Die normierte Perspektive der Fernsehbilder, die physische
Erscheinung des Monitors und die verschiedenen Wahrnehmungsperspektiven
der Betrachter sind zentrale Themen von Pipilottis Video-Installation "Perlen
der Zeit". Im architektonischen Grundriss ein der Windrose nachempfundener,
sechszackiger Stern, dienen die kristallin ausgeformten, fünfeinhalb
Meter langen Strahlen als Video-Projektionsräume. Die drei in den Westen
gerichteten Spitzen, sogenannte "Blickkegel", funktionieren wie
Stützlisex-Kabinen oder die Pariser Schmuddelguckkästen aus der
Zeit der Jahrhundertwende: Sie sind an ihrer Unterseite mit Löchern
ausgestattet, der Betrachter verschwindet mit seinem Kopf im Projektionsraum
und kann, während er die "verbotenen" Videos betrachtet,
nicht identifiziert werden - die "Blickkegel" bilden Schnittstellen
der Wahrnehmung, eines Vorgangs mit vordergründig öffentlicher
aber im Grunde genommen privater Dimension von unerhörter Intimität.
Die waagrecht in den Raum ragenden Pyramiden-Guckkästen
kümmern sich nicht um das mehr als doppelt so grosse Gesichstfeld des
menschlichen Auges. Der archtitektonische Rahmen fokussiert das Sehen auf
die Video-Projektionsfläche. Betrachter, deren Körper nicht der
Norm der Löcher entsprechen, müssen auf den Zehenspitzen oder
in leicht gebückter Haltung die Vorstellung erdauern. Diese Verkörperlichung
des Mediums macht physisch erfahrbar, wie das Fernsehen unsere Perspektive
konditioniert - die vereinheitlichte Medienrealität entpuppt sich
trotz immer perfekteren Simulationen letztlich als Krücke, die der
Natürlichkeit des Lebens nur sekundäre Erfahrungen hinzufügen
kann.
Während die an der Aussenseite angebrachten "Guckkästen"
den Blick des Betrachters auf eine bestimmte Bildfläche fokussieren,
ihn von allem Wahrnehmungsballast der Umgebung befreien, sozusagen eine
Laborsituation für die Rezeption einer einzigen Bildsequenz schaffen,
strapazieren die drei im Innern des Sechsecks angebrachten Video-Projektionsflächen
das gleichzeitige Erfassen von verschiedenen Bildwelten. Die Rezeptionsfähigkeit
wird nicht nur von der Gleichzeitigkeit, sondern auch von der ungewohnten
Langsamkeit und der Perspektive der Bilder auf die Probe gestellt. Alltägliche
Bewegungen wie das Schwimmen, Gehen und Umkleiden werden fragmentarisch
und in starker Slow-Motion aus einer mit dem Weitwinkel aufgenommenen Untersicht
gezeigt. Die Kamera opieriert nicht von einem fixen Standort aus, sondern
ist Teil der jeweiligen Bewegung, wird quasi verkörperlicht. Im Gegensatz
zu den Fernseh- und Kinobildern, die in ihrer Proportion auf Konsumierbarkeit
angelegt sind, versetzt Pipilottis gezielte Ueberhöhung den Betrachter
in die Ameisenperspektive und relativiert damit seine Rezeptionspostion.
Obwohl Pipilottis Video-Tapes durch ungewöhnliche
Bildausschnitte, schrille Farbeffekte, "unmögliche" Perspektiven
und ein exzessives Bilder-Collagieren von einer selbstbestimmten, eigenständigen
Aesthetik geprägt sind, spielen die technischen Voraussetzungen und
Bedingungen des Mediums bei der Bildfindung und -umsetzung eine tragende
Rolle. Darin steht die Künstlerin in der Tradition der Popmusik. Gezielt
sucht sie nach den blinden Flecken der Maschinen, nach Bildstörungen,
Kopierfehlern und zerrüttelten Sequenzen, beschäftigt sich sozusagen
mit dem maschinellen Unterbewusstsein. Der Betrachter wird beim ersten Blickkontakt
mit dem Effekt des Unvollkommenen, Billigen konfrontiert. Die Bilder sind
verwackelt, "verschneit", mit Stör-Streifen durchzogen. Diese
normalen Abnormitäten werden von der Technik generiert, sind Aufnahme-
oder Wiedergabefehler, die den eigentlichen Abbildungsauftrag des Mediums
unterlaufen und den Bildern eine malerische Textur verleihen. Die Bearbeitung
dieser gefundenen Bilder durch den digitalen Pinsel - die Künstlerin
liest einzelne Sequenzen in den Computer ein, lässt also analoge Signale
in digitale umwandeln, um sie zu bearbeiten und erst dann wieder zu transformieren
- radikalisiert und abstrahiert diese zeitgenössische "Hinterglasmalerei".
"Pipilottis Fehler" (1988) thematisiert explizit
die Analogie von menschlichen und maschinellen Unzulänglichkeiten des
Sehens. Im Vorspann zum eigentlichen Film erklingt aus dem Hintergrund eine
Stimme: "Ich sehe dich sehen/Du siehst mich sehen/Ich will sehen, wie
ich sehe/Du willst sehen, wie ich sehe/Ich will zeigen, wie ich sehe/Du
willst zeigen, wie du siehst/Nirwana im Rosengarten". Aus dem kurzen
Poem spricht die Sehnsucht nach der Geborgenheit von gemeinsamer Wahrnehmung.
Menschen können zwar gleichzeitig dieselben Bilder betrachten, ihre
Rezeption ist jedoch der individuellen Bildverarbeitung unterworfen, unterliegt
dem Einfluss von persönlichen "Bildstörungen". Darin
ähneln sich Mensch und Videorecorder. Gemeinsames Seh-Erleben bleibt
ein Paradoxon und ist faktisch nur möglich, wenn alle - die menschlichen
und maschinellen - Unschärfen, Fehler und Emotionen ausgeschaltet,
wenn die Gleichschaltung vollzogen wäre.
Allzuoft wird Pipilotti Rists Arbeit primär vor dem
Hintergrund feministischen Gedankengutes rezipiert. Werktitel, Found-objects
aus der weiblichen Lebenswelt und die oft praktizierte Auseinandersetzung
mit ihrem eigenen Körper suggerieren diesen Zusammenhang. Doch diese
eindimensionale Rezeption ist verfänglich. Die exzessive Thematisierung
des weiblichen Körpers ist bei Pipilotti in erster Linie eine biographisch
zu verstehende Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich und erst in zweiter
Instanz eine Aufarbeitung weiblicher Aesthetik. "I'm not the Girl Who
misses much" trällert sie pausenlos und repetitiv im gleichnamigen
Video eine Botschaft, die nicht ideologisch sondern spielerisch-selbstbewusst
gemeint ist. Analog dazu hat die Visualisierung von weiblichen Tabu-Themen
wie Menstruationsblut mehr mit dem Sichtbarmachen von Unsichtbaren, mit
der Rekontextualisierung verbohrter Wertvorstellungen denn mit primär
feministischen Zielsetzungen zu tun. Pipilotti Rist hinterfragt überkommene
Zusammenhänge und eingefahrene Rezeptionsmuster, schenkt ihnen neue
Bilder und entwaffnet alle Gegenargumente mit gescheitem Witz und Humor.
Das ist die eigentliche Qualität ihrer Arbeit - keine primär
weibliche, sondern eine künstlerische Strategie.
Einen beträchtlichen Anteil an der Entwicklung multimedialer
Technik im Videobereich besitzt die Pop-Branche. MTV, der weltweit zu empfangende
Fernsehkanal, hat nicht nur die Musik zum multimedialen Unterhaltungszweig
gemacht, sondern versteht sich ganz bewusst als Experimentierplattform für
neue Video-Bildsprachen: Für Promotionsclips beauftragt MTV regelmässig
Absolventen der Londoner Kunstakademien. Der Transfer Videokunst-Popindustrie
funktioniert nahezu in einem geschlossenen Kreislauf. Denn die von den staatlichen
Fernsehanstalten gezeigten Produkte besitzen keinerlei experimentellen,
sondern fast ausschliesslich dokumentarischen oder cineastischen Charakter
und werden meist in herkömmlicher Technik hergestellt. Beim Special-Interest-Sender
MTV ertrinken die "künstlerischen" Video-Bilder dagegen in
der Masse. Einzig der Kunst-Kontext ermöglicht eine partikuläre
Auseinandersetzung mit dem Phänomen.
"You called me Jacky" (1992) thematisiert diese
Verquickung von Pop, Technik und Neuer Medienkunst. Die Künstlerin,
selber Mitglied der Musikgruppe "Les Reines Prochaines", schlüpft
in die Rolle des Popstars, interpretiert frontal aufgenommen einen Song
des englischen Singer-Songwriters Kevin Coyne . Wie in der Musikvideobranche
üblich, ist das Tape eine komplette Simulation: Die Interpretin bewegt
ihre Lippen zu einem Playback, die Bilder sind Konserven. Während aber
die herkömmlichen MTV-Produktionen vorgeben, Realität abzubilden,
setzt die Künstlerin diese gezielt ausser Kraft. Sie persifliert mit
wilden Handbewegungen das Gittarrenspiel ohne ein Instrument in den Händen
zu halten, sie gerät beim Singen immer wieder aus dem Takt, vergisst
den Text, lacht und unterbricht den Vortrag während das Playback gnadenlos
weiterläuft. Die Einheit von Handlung und Ausdruck löst sich dank
dieser zeitlich verschobenen Erzählstränge komplett auf. Dieses
Sichtbarmachen von Verschiebungen und Realitätssimulationen mag als
Refernz an jenen zunehmenden Verlust des harmonischen Weltbildes gelesen
werden, den Coyne in seinem Lied melancholisch besingt: "I'm so lonely
lost and all alone/because they are married with children of your own".
Erstveröffentlichung: Biennale Sao Paolo 94