{CHRISTOPH DRAEGER}

apocalypse, now?
von Christoph Doswald

Es war einer der ersten sonnigen Tage im Frühling. Wir sassen auf der Terasse des »El Greco«, eines Kaffeehauses in Zürich und blinzelten ins Licht. Christoph Draeger schenkte mir den Katalog seiner Ausstellung in der Kunsthalle St. Gallen. Ich verlangte eine Widmung. Er nahm das hellblaue Heft zur Hand und begann mit einem Kugelschreiber zu kritzeln. Kurz darauf gab er mir die Publikation zurück. Als ich das Heft zuhause aufschlug, fand ich über dem Einführungstext mit dem Titel »Hat der Weltungergang schon stattgefunden?« die handschriftliche Anwort des Künstlers: »Ja.«, hatte Draeger repliziert und auf der gegenüberliegenden Seite ausgeführt »täglich Weltuntergang um ca. 17:45 MZ (Mondzeit)«. Über dieser Anmerkung befand sich eine kleine erklärende Zeichnung. Sie zeigt im Vordergrund eine Mondlandschaft und, hinter dem kraterübersäten Horizont, unter sternenklarem Nachthimmel, einen auf- oder untergehenden Planeten, die Erde.

Der Künstler richtet von Aussen den Blick auf unseren Planeten. Das Bild, das er in der Zeichnung entwirft, entspricht jener Perspektive, wie wir sie aus den Nachrichtensendungen, aus den Tagesschauen kennen. Distanziert, unbeteiligt und aus der Ferne – so lautet das in die Studiokulisse verpackte journalistische Credo – soll die Tagesaktualität rapportiert, über das Leid dieser Erde berichtet werden. Wohl deshalb zeigen die Fernsehregisseure die Nachrichtensprecher sozusagen in der Rolle von Astronauten – auf einer Sprecherkanzel platziert, verlesen sie Meldungen, während im Hintergrund der Nachthimmel und der blaue Planet zu sehen sind.

Draegers Zeichnung und die TV-Dramaturgie bilden also ein bemerkenswertes Analogon – eine Übereinstimmung, die sich auch in seinem restlichen Werk zeigt, das aus einer distanziert-ironisierenden Perspektive und in satirischer Form die medialen Konstruktions- und Rezeptionsmechanismen offenlegt. Sein besonderes Interesse gilt dabei seit fünf Jahren der Thematik der Katastrophen. Die künstlerische Fokussierung auf das Morbide hat zum einen medienimmanente Gründe: getreu dem journalistischen Motto, »einzig die schlechte Nachricht ist ein gute Nachricht«, generieren natürliche (Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, etc.) und menschliche Katastrophen (Atombomben, Autounfälle, Morde, Raubüberfälle, Gewaltausbrüche etc.) bei weitem höhere Einschaltquoten und eine grössere Bilderpräsenz als alle übrigen Themen. Zum anderen zeigen sich Katastrophen als unvorhersehbare Negativ-Ereignisse, die sich in kürzester Zeit abspielen, sich also einer langsamen Bildwerdung entziehen. Es gibt ein Bild vor und eines nach der Katastrophe, das Ereignis selbst bleibt jedoch unfassbar. Die Unmittelbarkeit der Apokalypse ist zwar ein medialer Wunschtraum, doch sie wird weiterhin den direkt Beteiligten vorbehalten sein.

Draegers Strategie sich bestehender Bilder von Katastrophen zu bedienen ist also eine parasitäre. Besonders deutlich wird dies an einer Arbeit, die im letzten Jahr entstanden ist. »Feel Lucky, Punk??!«, so der Titel der Videoinstallation, basiert auf Bildern von Raubüberfällen, die in legendären Kinofilmen (»Taxidriver«, »Thelma & Louise«, »Magnum Force«, »Pulp Fiction«) exakt jenen Kippmoment zwischen Alltäglichkeit und Gewalttätigkeit festhalten. Draeger hat vier signifikante Hold-up-Sentenzen aus diesen Filmen zu einem 12minütigen Band zusammengefügt. Allerdings nahm er an den Aufnahmen eine wesentliche Abänderung vor: die Perfektion des filmischen Erzählstrangs wird mit diletantischen, imitierenden Rollenspielen verschnitten, die der Künstler zusammen mit Freunden in seinem Atelier inszeniert hatte. Die filmische und die künstlerisch-theatralische Fiktion gehorchen demselben Drehbuch, und doch formulieren sie zwei unterschiedliche mediale Ebenen, die einzig durch die Soundspur zusammengehalten werden. Der Künstler nistet sich mit »eigenen«, selbstgemachten Bildern in die öffentlichen, kollektiven Projektionen der Kino-Erzählungen ein, während der Ton, im Original belassen, die ursprünglichen visuellen Sentenzen echot. Dieses Spiel mit den medialen Aggregatszuständen ist raffiniert und verwirrend, denn es wirft unablässig Fragen nach der Funktion und der Bedeutsamkeit von Bildern auf, dekonstruiert, dekontextualisiert, rekonstruiert und rekontextualisiert sie in einem fort.

Auf analoge Sinnzusammenhänge zwischen Gewalt und medialer Konstruktion/Rezeption verweisen bereits frühere Werke Draegers. Anfang der neunziger Jahre baute er etwa in seinem Brüsseler Atelier zwei grossflächige Modell-Landschaften, die sich aus einer Summe von fiktiven Katastrophen zusammensetzten. »Katastrophe 1« zeigt beispielsweise eine Vorstadtsiedlung in der kein Stein mehr auf dem anderen steht: abgedeckte Häuser, unterbrochene Stromleitungen, geknickte Strassenlaternen und entwurzelte Bäume sind die installativen Vokabeln der Zerstörung, deren sich Draeger bedient. Während der Akt der Heimsuchung in der Realität meist nur wenige Augenblicke dauert , kehrt Draeger jedoch das zeitliche Verhältnis von Ursache und Wirkung bei der artifiziellen Simulation von Katastrophen um – er arbeitet, vergleichbar mit dem kanadische Fotokünstler Jeff Wall, minutiös und monatelang an der Konstruktion seiner Bilder und forciert damit das künstlerische Paradox zwischen der Schöpfung und der Destruktion: Indem der Künstler das Bild der Katastrophe konstruiert, zerstört er es gewissermassen. »Modelle«, sagte Draeger kürzlich in einem Interview, »sind Verniedlichungen und Verkleinerungen und somit ein Versuch, mit etwas zu Grossem umzugehen.«

Viel Zeit fordert Draeger vom Käufer seiner »Schönsten Katastrophen der Welt«, die seit 1994 entstehen. Wer eines der Werke erwirbt, wird sich tagelang mit dem Aufbau einer Katastrophe beschäftigen. Der Künstler überlässt dem Sammler nämlich ein in mehrere tausend Einzelteile zerlegtes, grossformatiges Puzzle auf dem die herkömmliche, idyllische Landschaft durch ein Unglücksmotiv ersetzt wurde. Eine derartige, lang anhaltende Auseinandersetzung mit dem Unglück ist, persönliche Betroffenheit ausgenommen, in unserer westlichen Zivilisation nicht weit verbreitet. Zwar erhalten Katastrophen eine schnelle, schnappschussartige Aufmerksamkeit, doch mit der Übermittlung dieser vermeintlichen Unmittelbarkeit – dem sogenannten Live-Charakter – hat der Diskurs gleichzeitig auch schon sein Ende gefunden. Tagesaktualität bleibt eben Tagesaktualität.

In Japan verhält es sich mit der Katastrophenbewältigung komplett anders. Dort wird die Katastrophe tagtäglich erwartet und ihr mögliches Eintreten alljährlich am 1. September prophylaktisch simuliert. Der »Tag der Katastrophe« besitzt nicht nur eine Zukunfsperspektive, sondern ist gleichzeitig ein Erinnerungsdatum: an diesem Tag im Jahre 1923 wurde Japan vom verheerendsten Erdbeben der Neuzeit erschüttert. Draeger und sein Künstlerpartner Martin Frei, mit dem er die Produktionsgemeinschaft ®usa betreibt, haben während sechs Wochen die japanischen Inseln bereist und dort eine künstlerische Recherche zum Katastrophen-Thema betrieben. Entstanden ist ein quasi-dokumentarischer Videofilm über den Umgang der Japaner mit Erbeben, Atombomben, Überschwemmungen oder Feuersbrünsten. »Un ga nai – bad luck« (1998) lautet der Titel des Videos, das wegen seiner exotischen Motivik – man kann etwa Feuerwehrleute beobachten, wie sie windschiefe potemkinsche Holzhüttchen mit Wasser besprühen, oder wie Kinder, obwohl am Fusse eines Kegels lebend, mit Mini-Vulkanen auf allfällige Eruptionen vorbereitet werden – für unseren abendländischen Geschmack trotz vorgeblicher Authentizität eine enorme simulative Wirkung besitzt. Ästhetik, Dokument und Fiktion verschmelzen auch in diesem Draeger´schen Katastrophen-Konstrukt zu einer ungemein energetischen, selbstironischen Montage, die keinen Zweifel daran lässt, dass wir unsere Wahrnehmung tagtäglich von neuem justieren müssen, um in der Eintönigkeit des medialen Rauschens einige wenige Betroffenheitsregungen zu bewahren.

Text erschienen in:
Cinéma Cinéma, Contemporary Art and the Cinematic Experience, Katalog Stedelijk Van Abbemuseum, Eindhoven 1999