Martin R. Dean

Hyperhysterie



Die alarmierende Nachricht erreichte mich nicht übers Netz, sondern übers gute alte Printmedium. Sie handelte vom dramatischen Ausstieg der US- Bevölkerung aus dem WWW. Fast die Hälfte der Bevölkerung, las ich, sehe keinen Nutzen im Internet. Andere seien durch das Durcheinander im Web frustriert. Vor allem die vielumworbene, mit aller medialen und wirtschaftlichen Zärtlichkeit bedachte Gruppe der Teenager habe die Nase voll vom Web. Eine unerhörte, eine bedenkenswerte Meldung!-
Die Körperfeindlichkeit des Mediums hat sich mittlerweile herumgesprochen: hochbezahlte Informatiker, deren Körper die typischen Vernachlässigungssyndrome wie Fettsucht, zerfliessende Konturen und absterbende Erotik verspüren, wechseln über zu Jobs mit physischer Präsenz. Sprichwörtlich auch ist die Unordnung im ‘Datenfriedhof’: wer sucht, findet mit Sicherheit das, was er nicht benötigt.
Als Ende der achtziger Jahre die Utopien verblassten und die Kultur- und Werteschöpfer nur noch den trüben, neoliberalen Realismus einübten, vergassen sie den Hunger des Menschen nach Utopien. Dieser Hunger richtete sich alsbald aufs Web, deren erste ‘User’ sich bis heute als Avantgardisten gebärden, auch wenn es nur um die Vervielfältigung (ungelebter) Wissensbestände geht. Der Verelendung der Welt zur einzig möglichen, realen entspricht der kopflose Höhenflug der (meist männlichen) Techniknarren. Schon Descartes verwechselte das Tier mit einem Automaten; seither ist nur die Technik besser geworden, während die Phantasien sich auf immer derselben männlich-infantilen Schwundstufe am Medium emporranken. Abzusehen ist, dass der totale Umbau der Gesellschaft durch das WWW nicht stattfinden wird. Aber die verirrte Sehnsucht nach Utopischem lechzt nach Erfüllung und findet sie im Grössenwahn der Apologeten, die ihre Worthülsen wie ungedeckte Checks durch die Diskurse wirbeln lassen. Hyperhysteriker verkünden, dass der Entwicklungsgraben zwischen Schwarzafrika und Europa durch das Web in wenigen Jahren zugeschüttet würde. In der Wirklichkeit, die den Maniaks im Rausch der Virtualitäten abhanden gekommen ist, verhungern die Leute keineswegs, wie Postman sagt, aus einem Mangel an Informationen. Längst hat die ‘zynische Vernunft’ (Sloterdijk) bewiesen, dass eine Vermehrung des Wissens keines der dringenden Probleme löst. Ebenso unterschlägt die Behauptung, das Web ermögliche die Kommunikation zwischen den Menschen, die Tatsache, dass zur Kommunikation nichtverbale Aspekte wie Blicke, Berührungen, Schweigen und gemeinsame Erlebnisse gehören.- Einige der technischen Erfindungen wie die Fotografie und der Film haben zu neuen Kunstformen geführt. Das Web dürfte nicht dazu gehören. Der Trivialautor Stephen King zumindest erlitt mit der Erstveröffentlichung seines Romans im Web herbe Ernüchterung; die Fans zahlten nicht. Und der deutsche Autor Thomas Hettche leitete eine Aktion Schreiben im Netz: das Ergebnis war ein gebundenens Buch. Gewiss, der infantile Homo Faber sässe heute auch am PC. Aber mitnichten würde Frisch seinen Roman im Netz veröffentlichen.