Martin R. Dean

Das Geheimnis des Mülls



Bei Joyce reimt sich letter (Buchstabe) auf litter (Abfall). Darüber nachdenkend, ob Abfälle genauso erkenntnisträchtig wie Buchstaben sind, trat ich aus dem Haus in einen Hundekot. Einbeinig fischte ich mir die Zeitung aus dem Briefkasten und wischte mit dem Börsenteil die Sohle sauber. Gleichzeitig las ich: "Basel wird suuber." Die geplante Radikalkur gegen falsch parkierte Kehrrichtsäcke, PC-Bildschirme in Blumenrabatten, verstreute Zigarettenstummel und Plastiksäcke erregte spontan meine Sympathie. Insbesondere dachte ich länger über das Problem der Kaugummis nach, deren Haftfähigkeit Hundekot weit übersteigt. Kaugummi auf Plätzen müssen entfernt werden, denn sie verstärken keineswegs den Belag, wie ich irrigerweise glaubte, sondern schädigen ihn. Eine Strasse voller Kaugummis wird also nicht weicher, sondern nur zäher. Wie aber entfernt man einen Kaugummi, der, sagen wir, zwei Jahre lang innig auf dem Pflaster haftete? - Statt mit den Fingernägeln draufloszukratzen, gibt es heute spezielle Schaber. Es gibt, in nobleren Quartieren, den Kaugummispray, bei dem der gekaute Gummi brutal von seiner Unterlage getrennt wird und sich - tödlich verwundet - zusammenrollt.
Doch gleich darauf kamen mir Zweifel, ob man den Abfall nicht vor seinen Beseitigern schützen muss. Wenn es ein Geheimnis des Komposts gibt, warum nicht auch ein Rätsel des Mülls, eine kulturelle Signifikanz des Weggeworfenen? Wer sagt denn, dass man Tetratüten, Hühnchenknochen, Präservative und Monatsbinden einfach so weggkehren kann ohne Verlust an selbstidentifikatorischen Aspekten?
Mein Müll gehört mir! Mein Müll legt unverstellt Zeugnis von mir ab. Von meinen Alltagverrichtungen (Zehennägel), meinen geheimen Lüsten (Hühnchenknochen), meinen versteckten Ängsten (Schokoladenpapier) und meinem Scheitern (Makulatur). Der Müll ist weit mehr ein Speicher meines täglichen Lebens als die Fotografie, das Video oder andere Medien: ohne verzerrendes Medium legt er meine Spuren bloss. Im übrigen hebt er die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem, an der die Medien so lustlos wie verbissen rütteln, mühelos auf. Was ich in meinem Bad oder meiner Küche so alles treibe, wird aus dem Inhalt meines Bebbisacks ersichtlich, der draussen vor der Türe steht. Sodass ich gerne formulieren würde: Zeig mir deinen Abfallsack und ich sage dir, wer du bist. Gesellschaften lassen sich, davon bin ich überzeugt, über ihre Müllhalden beschreiben.
Was also soll die Putzhysterie einer gesamtstädtischen Aktion? Ist doch selbst das Schmutzempfinden von Mensch zu Mensch so verschieden, dass die Norm einer städtischen Sauberkeit pure Fiktion ist. Ein Mann aus Jaipur wird an der hiesigen Sauberkeit ersticken. Warum denn einen gesamteidgenössischen Anti-Littertag, wenn wir uns als Volk damit nur noch spurloser, also geschichtsloser machen? Ist denn die Geschichtslosigkeit der Schweiz nicht auch eine Folge ihrer Sauberkeit? Und erst recht fröstelt mich beim Gedanken einer weltweiten Aktion "Clean up the world". Da wird dann jeder Kaugummi in stundenlanger Feinarbeit vom Belag entfernt, während die globale Industrie immer systematischer unsere Luft, den Boden und das Wasser vergiftet.