Hans-Christian Dany 4.03 für springerin

Klaut wie die Raben

Überlegungen zur Politisierung, Kunst, Identität in den letzten 7 Jahren

In meinem Leben gab es eine Zeit, in der ich erst an den Kauf neuer Schuhe dachte, wenn die Sohlen des alten Paares durchgelaufen waren. Das ist jetzt vorbei. Heute denke ich täglich an den Schuhkauf. Es hat sich also etwas verändert. Der wachsende Wunsch nach Schuhen machte sich langsam breit. Er trat erst nur monatlich auf, dann jede Woche. Jetzt vergeht kein Tag, ohne dass ich denke, ich könnte mir doch Schuhe kaufen.

Der Versuch politische Formen im Kunstbetrieb wieder in Mode zu bringen, war merkwürdig verkoppelt mit einer sozial auferlegten und nach aussen getragenen Bescheidenheit. Man hatte kein Geld, aber sollte das ein Grund sein, es so dick aufs Brot zu schmieren und das wenige, noch schäbig aussehen zu lassen.

Vermutlich liegt es wirklich an den Schuhen, dass mir die Vorstellung von einer Politisierung der Kunst immer seltener über die Lippen geht. Was nur so aus dem Mund hüpfte, steckt jetzt als Kloss im Hals. Dabei sollte Widerstand Genuss sein.


SAG MIR WO DU STEHST

Das Versprechen einer politisierten Kunst, wie es sich Anfang der neunziger Jahre formulierte, wurde mir im Sommer 1995 zunehmend schleierhaft. Dieser Nebel liess sich auch als Chance begreifen, da sich ein Gewusst-Wie als Irrtum entpuppte. In der immer unschärfer werdenden Umgebung eines abnehmenden Wissens beobachtete ich mich zwangsläufig öfter selbst. Als politisierter Künstlers liessen sich die Fragezeichen leicht nach aussen verlagern, man wusste wofür man steht. Dieses Beharren auf der korrekten Haltung, der Besitzanspruch auf das Gut-Sein, scheint mir - aus heutiger Sicht - , ängstlich. Auch erlaubte diese Haltung keine wirkliche Suche, zu leicht hätte diese Infragestellung den notwendigen Boden unter den Füssen weggezogen. Bevor der Faden riss, schien klar, wofür man stand. Alles Mögliche liess sich in den Schatten dieser Sicherheit über das Ziel rücken. Ohne eine rechte Ahnung vom Ziel, also mehr oder minder orientierungslos, stand ich (andere erzählen Ähnliches) plötzlich zwischen all dem zuvor unter den Teppich Gekehrten, das einfach wieder hervorkrochen kommt. Manchmal sind es klare Überlegungen, man kann so was positiv 'Einsicht' oder 'Erkenntnis' nennen, dann wirkt es wieder wie ein wirrer Traum, was aufregender ist. Einzelne Sequenzen der Kunst neunziger Jahre, in denen ich teilweise mitgespielt habe, kommen mir darin wie Nachstellungen der Sesamstrasse vor. Das sieht dann so aus, als ob Ernie und Bert das 'O', "wie Outsourcing", erklären. Das ist für einen Moment komisch, wird aber schnell peinlich. Peinlichkeit ist erst mal nicht schlecht, da sich mit ihr der Zweifel einstellt. Auch würde ich nicht behaupten, dass es ein problemloser Genuss oder eine kalkulierte Peinlichkeit ist, wenn ich mir beim Schuhe Kaufen über die Schulter gucke, aber mich als politisierter Künstler neben mich selbst zu stehen grenzte an die Unmöglichkeit. Die Perspektive der politisierten oder kritischen Kunst bedingt es, dass man bei den anderen nach den Fehlern sucht, eben um zu kritisieren. Also prinzipiell ist der Outsourcer mies, und nicht mein Sprechen darüber.


SCHULD-HABEN IST MEIN HOBBY

Ende der achtziger Jahre bemerkte Boris Becker in einem Interview kurz nach einem seiner Besuche in den Häusern an der Hafenstrasse: "Die neunziger Jahre werden sehr politisch". Nicht gerade eine Äusserung, auf die man sich berufen konnte, aber bei mir blieb es hängen.

Es gab sicher einen Anfang der Politisierung, aber keinen Plan 'kritischer Künstler' zu werden. Ich habe wohl Dinge auf mich genommen, die mich in Zusammenhang mit diesem Genre bringen. Ich möchte mich auch nicht von der Schuld an dem, was vorgefallen ist, freisprechen. Schuld-haben hat was von Grössenwahn. Das Geständnis einer kleinen Mitschuld an der kritischen Kunst könnte so etwas wie gesundes Selbstbewusstsein sein.

Tue ich aber so, als hätte ich nur zufällig im Raum gestanden, klingt das etwa so: Bei der politsierten Kunst handelt es sich um einen überdehnten Trend, der einer Ästhetisierung des Politischen zuarbeitet. Die Konstruktionen wurden selbstverständlich aus anderen Motiven entwickelt und konnten zweitweilig für einen dritten Bedarf eine Brücke bauen, das Gewässer darunter wurde aber zu breit und die Brücke fiel in den Bach.


KOLLEKTIV ALS DESIGN

Der Versuch einer in gesellschaftliche Umstände eingreifenden Kunst basiert, wie die meiste Kulturproduktion, auf einem Fundament aus teils vorsätzlichen Missverständnissen. Die Methode ein Missverständnis zu konstruieren, oder sich sogar dumm zu stellen, um mit diesem Trick in einen potentiellen Handlungsspielraum zu gelangen, scheint mir als eine Technik der künstlerischen Produktion, notwendig und legitim. Im glücklichen Fall vervielfältigen sich solche (Schlüssel) Missverständnisse sogar und führen auf produktive Abwege, von denen man zuvor nichts ahnte. Die Eskapade, als Möglichkeit, war auch im Falle der Neuerfindung von Kunst und Politik vorstellbar, wurden aber nicht mit Leben erfüllt, sondern meist von innen abgeschaltet. Es blieb also im Rahmen überschaubarer Irrtümer und Entfremdungen, wie dem, dass es sich bei einer Gruppe im Kreis sitzender und diskutierender Menschen um Kunst und Politik handelt. Eine Idee, deren hippiesker Charme erst mal so daneben war, dass sie eine eigene Qualität entwickelte. Als Hauptproblem der Wahrnehmung des Kreises stellte sich regelmässig die Frage ein, wer da im Kreis sitzt und wer nicht, oder an welche Öffentlichkeit mit diesen Ausschlussmechanismen adressiert wird. Eine scheinbar interessante, aber schnell erschöpfte Frage. Bedenklich werden solche Zeichenspiele, wenn die Beteiligten beginnen sich darin gemütlich einzurichten und das Fragezeichen zum Design verkommt. Es wird verfeinert, elaboriert, der Einfall verwaltet. Diese Wandlung zum Raum versperrenden Möbel ist im Falle der politisierten Kunst und ihrer Wirkungsproblemem, genauer deren Mangel an Wirksamkeit, schon lange erreicht. Was vor fünf Jahren noch lebendige Metapher war, also eine Verdrehung der Begriffe, die Räume eröffnete, überschritt ihr Haltbarkeitsdatum und wurde Konvention.


SPIRALEN DER ERINNERUNG

Sowohl Produzenten, als auch Rezipienten schienen so sehr mit ihrem Wollen, politisch zu sein beschäftigt, dass Aussenstehende vermutlich manchmal das Gefühl bekamen, einer Horde Hamster in ihren Rädern zuzusehen. Auch stützte sich die Vermittlung dieses Begehrens auf die Oberflächen eines Polit-Aktivismus vergangener Tage. In der Verwendung solch vertrauter Oberflächen lag vielleicht die Hoffnung, so leichter eine Öffentlichkeit zu erreichen.

Stellte sich die erwünschte Öffentlichkeit nicht ein, erfanden wir uns unser Publikum einfach selbst. Manchmal brauchten wir gar kein Publikum, da wir schon so Viele waren und uns gegenseitig zusahen. Überhaupt kam einer selten allein und wenn wirklich mal jemand alleine losgeschickt wurde sprach der gern - wie ein Firmenangestellter - im Pluralis Majestatis von Wir/Uns/Unser, wodurch der Ärger mit dem Subjekt erst mal schnell in die Abseite geschoben wurde.

Unausgesprochenes Argument gegen ausgefeiltere ästhetische Erfindungen war, dass dies die Rolle einzelner Produzenten betonen könnte und eine solche Hervorhebung dem Kollektiv schaden würde. Sich als 'gute' Künstler hervorzutun war der erste Schritt zum Verrat. Die Produktion legitimierte sich weniger über ihren ästhetischen Wert, als ihre politische Behauptung und das Gemeinschaftsgefühl ihrer Produzenten. Die Formfindungen und Präsentationen waren aber oft so unzugänglich, das Aussenstehende nur nach grossen Anstrengungen teilhaben konnten. Die Produktion nicht verausgabt, sondern zu oft gehortet, auch da eine Vereinnahmung durch ungewollte Dritte befürchtet wurde. Die interne Kritik an der Produktion speiste sich vor allen aus der Behauptung eines Mangels, sei es an politischer Korrektheit oder Authentizität .


DIE POLIZEI IM KOPF

Verstärkt wurde die Tendenz gegen den Einsatz künstlerischer Techniken durch eine zunehmende Furcht vor Bildern und Metaphern. Es stellte sich eine selektive Aufmerksamkeit gegenüber den produzierten Zeichen ein, deren erste Kategorie war, dass sich kein Rassismus oder Sexismus einschlich. Dieser zu diesem Zeitpunkt erst mal wichtige Filter wurde zunehmend zur Lähmung. Die Annahme einer solchen Kontrolle führte zu dem psychosozialen Effekt eines vorauseilenden Gehorsams gegenüber einer angenommenen Instanz. Eine Annahme, über die begonnen wurde, sich alles Mögliche zu verbieten. Das zurückgehaltene bildnerische Element, mit seinen Abgründen, wurde mit einem sich rationalisierenden Beiklang versehen, der vieles von vornherein entschärfte.

Sozioökonomisch können viele Ausprägungen der politisierten Kunst auch zu den Formen gezählt werden, mit denen die Oberflächen des Politischen auf den Grabbeltisch ihres jüngsten Ausverkaufs getragen wurden. Sie lieferten die Deko einer angeblichen Politisierung, die real wesentlich seltener existierte. Auffällig ist in diesem Zusammenhang das Missverhälnis zwischen durchgeführten Aktivitäten und deren Medien-Präsenz, eines der besten Beispiele dafür sind die Hamburger Wohlfahrtsausschüsse. Die Produktion der Kulturlinken fungierte in hohem Masse als Regulativstrategem in einer sich etablierenden neoliberalen Ordnung.


MITTEN IM KOPFLOSEN MASTERPLAN

Bei den Zweifeln an den Möglichkeiten einer Politisierung auf symbolischer Ebene kann kaum übergangen werden, dass sich die krisischen Formationen des Kapitals und die damit verbundenen Umstrukturierungen seit der ersten Hälfte der neunziger in hektischer Bewegung befinden. Der Versuch einer Beschreibung oder Kritik wurde rasant von den jüngsten Verschiebungen überholt. Es ist aber nicht allein dieses Tempo, das zu Stimmwechseln zwischen den Sprechern der verschiedenen Fraktionen führte, sondern auch eine Frage des Klassenstandpunkts, die den Ton der Kulturlinken in restaurativen Begriffen, wie 'Sozialaufbau' (springer 1.97), sprechen lässt. Künstler sind fast unvermeidlich kleinbürgerliche Produzenten mit einem inflationsgefährdeten immateriellen und realen Kapital. Dass die von der eigenen Verelendung Bedrohten auf die Idee einer Rekonstruktion des Sozialstaates kommen, diesen einklagen, hat eine nachvollziehbare Logik. Folgt man einigen Diskussionen zum Abbau des Sozialstaates, entsteht der Eindruck, der Sozialstaat wäre das Glück dieser Erde gewesen und es gebe wirklich etwas zu verlieren. Gewagtere Ausblicke auf das katastrophische Potential der ziellosen Bewegungen des krisischen Kapitals wagen da des öfteren die Wirtschaftsteile rechter Zeitungen (zum Beispiel in der Neue Zürcher Zeitung). 'Links' wurde das Sprechen von der Krise zeitweilig mit der Argumentation tabuisiert (zum Beispiel in Texte zur Kunst), da dies nur einer weiteren Verschärfung der Verhältnisse zuarbeiten würden.

Ein weiteres Problem der kulturellen Politisierung ergibt sich aus der Klassenperspektive der Kulturproduzenten, die sich in einer kaum überwindbaren Konkurrenzsituation zueinander befinden. Zwar gab es verschiedene Versuche diese Vereinzelung zu unterlaufen, in dem Produktionsgemeinschaften gebildet wurden oder sie zumindest offen zur Diskussion zu stellen. Andere Versuche liefen darauf hinaus, sich innerhalb subventionierter Projekte, wie der Shedhalle in Zürich, sich soweit an den Rand des kapitalistischen Gefüges zu rücken, dass kaum noch relevante Aussagen über dessen Mechanismen mehr gemacht werden konnten.


DIE SACHE MIT DER MÜTZE

Ein Zoom ins Detail: Es ist erst mal nicht mein Problem, sondern eines, das jemand anders vor fünf Jahren mit seiner Mütze hatte. McColm-X-Mützen standen zu jener Zeit für eine Solidarität mit dem Befreiungskampf der AfroAmerikaner. Als vom Falschen getragenes Zeichen kam die X-Mütze durch den Artikel 'The Kids are not allright'(SPEX 11.1992) von Diedrich Diedrichsen, ins Gerede. Dieser X-Mützen-Besitzer berichtet in dem Text, wie er in einer österreichischen Illustrierten blättert und darin jemand entdeckt der die gleiche Mütze trägt. Diedrichsen mass dem X einige Bedeutung bei. Es nun auf dem falschen Kopf, dem eines ostdeutschen NeoNazis, zu sehen, liess für ihn eine Welt zusammenbrechen. Er regte sich nicht nur schrecklich auf, dass sich der Falsche seine Mütze auf dem Kopf gesetzt hat, sondern fühlt sich von seiner Mütze betrogen. Der Gehörnte verflucht nicht zuerst den falschen Mützenträger, sondern vor allem die fremdgegangene Mütze. Schnell geht es nicht mehr nur um die Mütze mit dem X, sondern diese ganzen unzuverlässigen, treulosen Zeichen, die sich hemmungslos mit allem und jedem paaren. Der der Macht über seine signifikante Mütze beraubte Autor beginnt nach Ordnung und Monogamie zu schreien. Die Freiheit, die sich die Mütze nimmt, machen ihn arm und deshalb machen er nicht mehr mit bei den Freiheit der Mütze, der Jugendkultur und den Sprachspielen der achtziger Jahre.


BITTE KEIN SEX

Das Mützenproblem und dessen Rezeption war so symptomatisch, dass daraus eine richtige Mützen-Bewegung entstand und es fast unmöglich wurde, sich deren Strudel zu entziehen. Die Mütze wurde also auch zu meinem Problem. Diese Mützen-Welle war mitten in eine allgemeine Erwartung, fast Sehnsucht nach einer Ordnung und Bedeutsamkeit der Zeichen geschwappt. Wichtig scheint mir, dass die Mütze nicht in Mode kam, also begehrt wurde, sondern dass es um das aus-der-Mode-bringen einer Mütze ging. Während dieses Abschieds und danach wurde viel von Wünschen gesprochen. Überall entstanden kleine Lesezirkel, welche dicke Bücher über Wunschmaschinen und tausend Hügel lasen. Das Reden vom Wunsch verkam dadurch mehr oder minder zum Kitsch. Und wenn Michel Foucaults These, dass die Abwesenheit gelebten Begehrens zu einem anschwellen des Diskurses darüber führt, weiterhin Gültigkeit hat, könnte gefolgert werden, dass nach dem Abschied von der Mütze enthaltsame Zeiten begannen, in denen das Begehren zum vertexteten Ding der Lesezirkel wurde.


MACHT SINN

Das Bedürfnis nach bedeutungstragenden Zeichen lag zu diesem Zeitpunkt in der Luft und wartete nur auf einen Auslöser - wie die X-Mütze. An alle Türen wurde geklopft, ob sich dahinter nicht der Falsche des richtigen Zeichens bedient oder irgendwo ein Hakenkreuz versteckt war. Viel Bedeutungsloses wurde jetzt hemmungslos mit Bedeutung überkippt. Das Leben segelte wieder mit dem Wind des Sinns. Auch ich genoss es, auf Bedeutung verweisende Zeichen-Ketten zu knüpfen. Ganz einfach liess sich plötzlich alles mit jedem verketten, überall fanden sich neue Hinweise. Eine paranoide Struktur führt bekanntlich zu Übermut. Plötzlich kennt man sich in einer wachsenden Zahl von Zeichenfeldern immer besser aus und kann dort nach Fakten für das Beziehungsgeflecht wildern. Vielleicht waren die neunziger Jahre so textlastig, da es einfach wieder erlaubt war, sich der Verschwörung der Zeichen und Dinge hinzugeben. Alles was sich in den von Zweifeln geprägten Achtzigern angestaut hatte, ergoss sich nun in einer neuen Lust an Behauptungen. Wider besserem Wissen legte ich mir meine private Legitimation zurecht, die verkürzt ungefähr so funktionierte: Wenn es zuletzt unsere ethische Pflicht war zu dekonstruieren (Derrida), dann musste in der notwendigen Gegenbewegung, der Sinn rekonstruiert werden, also an die Bedeutung der Zeichen geglaubt werden.

Vielleicht haben andere sich Ähnliches zusammengereimt, über so was wurde wenig gesprochen. Die Fraglosigkeit des Unternehmens Re-Politisierung lag auf der Hand. Mit Abstand kommt es mir so vor, als ob die damaligen Überlegungen vor allem mit sich selbst beschäftigt waren, ohne dies zu realisieren oder erst recht zum Ausdruck zu bringen, wodurch ich sie von der eingangs beschriebenen Selbstbeobachtung unterscheiden würde. Die Politisierung oder der Versuch der Entwicklung einer politischen Haltung stand in hohem Masse für die Herstellung von Indentität, die ansonsten irgendwo auf der Strecke geblieben war. Identität als politische Frage? Das tut ICH manchmal gut, aber ob die Identität im Falle weisser, hier meist hetereosexueller Jungmenschen aus Mittelklasse Verhältnissen politisch ist, steht woanders.

Es scheint mir unnötig meine Sicht der Entwicklung einer politisch-wollenden Kunst im deutschsprachigen Raum seit 1992 nachzuerzählen. Es ging mir bei diesen Überlegungen auch nicht um ein bashing der deutschen Variante des politisch Korrekten. Das heute sexistische und rassistische Äusserungen zumindest in bestimmten Zusammenhängen nicht mehr so leicht fallen, wie vor fünf Jahren, ist ein äusserst positiver Effekt. Nur scheinen inzwischen viele der Debatten darum nur noch zum Selbstzweck oder der Begründung von akademischem Karrieren geführt zu werden. Interessanter als das betonte Gespräch im Kreis der Wissenden oder das Abarbeiten an immer spezifischeren Detailfragen scheint mir die dezente, aber vielleicht wirksamere Praxis in der Öffentlichkeit.


MASKEN

Als Versuch eines möglichen Blicks nach vorn möchte ich mich mit einer anderen Verschiebung des Begehrens beschäftigen. Einem Begehren das nicht als Äusserung vor sich her getragen wird, sondern hinter einer Maske verborgen, anwesend bleibt. Masken sind heute eher selten getragene Kleidungsstücke, die dazu dienen das Gesicht unkenntlich zu machen. Kinder stülpen sich manchmal etwas über den Kopf und flüstern darunter: "Ich bin nicht mehr da, ich bin weg." Solche Formen sich selbst, einen Gegenstand oder Gedanken zu verstecken oder temporär wegzuzaubern, interessieren mich immer wieder. Manchmal machen Kinder dafür auch nur die Augen zu.

Anspruch einer politisierten Kunst ist, in das gesellschaftliche Geschehen einzugreifen. Dass es sich bei einer solchen Auseinandersetzung um einen aggressiven Konkflikt handelt, scheint ihre Protagonisten manchmal weniger zu interessieren. Mitten im Schlachtfeld von Tarnung und Täuschung präsentieren politisierte Künstler, bevorzugt eindeutige Bekenntnisse und Gesten für das Gute. Ein solches Politik-Verständnis könnte mit einer Formulierung Hegels als, "Herzklopfen für das Wohl der Menschheit", umschrieben werden. Als habe es die Katastrophe der Moderne nicht gegeben, soll Aufklärung plötzlich wieder möglich sein. Hegel schreibt weiter über das wohlwollende Herzklopfen, dass dieses schnell in "das Toben eines verrückten Eigendünkels" überginge.


DER HELD

Eine konträre Auffassung politischen Agierens formulierte Balthasar Gracian. Das Konstrukt, das Gracian in Büchern, wie dem 1637 veröffentlichten 'El Heroe' (Der Held, Berlin 1996) entwirft, richtet sich nicht ausschliesslich an Machthaber und den Adel, wie es wohl seiner Zeit entsprochen hätte, sondern jeden der 'klug sein will'. Der entworfene Held hat mit Nietzsches "blonder Bestie" wenig gemein. Er ist nicht lyrisch, sondern lakonisch und unergründlich bis zur bewussten Täuschung. Gracians Text seziert das Heldentum und den damit verbunden Ruhm durch die Analyse der ihm innewohnenden Gesetzmässigkeiten und Mechanismen. Die nachvollziehbar gemachten Techniken des Erwerbs von Ruhm verspricht eine allgemeinere Zugänglichkeit dieses Olymps. El Heroe kann als einer der ersten Versuche einer demokratischen Helden-Theorie gelesen werden, und wäre damit auf eine Art auch einer der ersten Texte der Pop-Kultur. In den Texten Gracians reduziert sich die Moral auf taktische Regeln in einer Welt aus der sich die Wahrheit "mit schweren Erkältungserscheinungen" zurückgezogen hat. Das Verständnis von Identität wandelt sich dabei zur Arbeit an der Konstruktion eines Alter-Egos. Authenzität versteht der Pater als Behinderung der Beweglichkeit, das Ich als ein "illusorisches Ding".

Gracian teilt El Heroe in zwanzig Meisterschaften. Anhand von einigen lässt sich die Vielfalt und Aktualität des von ihm entworfenen Weltbildes ablesen. Die erste, "Das der Held die Unergründlichkeit seiner Fähigkeiten praktiziere", untersucht das Geheimnis und dessen unscharfen Rand als Strategie der Verführung. Sie formuliert in ihrem Fazit: "Dass alle dich kennen, aber niemand dich durchschaue. Mit diesem Kunstgriff wird das Mässige viel, das Viele unendlich und Unendliche noch mehr scheinen". Mit dieser Inszenierung eines Phantoms oder diffusen Identität hinter einem halbdurchsichtigen Spiegel könnte sich eine relativ kleine Bewegung zu einer politisch relevanten Kraft stilisieren, also die Anmutung überschüssiger Energien inszenieren.


SELBSTLIEBE

Gracians zweite Meisterschaft untersucht die Chiffrierung des Willens. Wenn etwas den Protagonisten der politisierten Kunst in den neunziger Jahren abging, dann "dass keine Gegenlist" ihren "Willen entziffern" konnte. Die politische Kunst bekennt sich notorisch zu ihrem Begehren, Kritik üben zu wollen oder die Welt zu verbessern. Dieser Bekenntniseifer, der meist mit seiner eigenen Kommunizierbarkeit argumentiert, wirft die Frage auf, ob dabei überhaupt ein politischer Konflikt angesteuert wird oder hinter der ständigen Verortung der eigenen Identität, nicht vor allem das Motiv der Selbstliebe steht.

Gracians fünfte Meisterschaft fordert den bedeutenden Geschmack, die Sparsamkeit des Lobes. Jugendliche Hipster konstituieren sich über Abgrenzung und extrovertierten Hochmut. Diese Meisterschaft betrieb der 'Zusammenhang' (das heisst kurz gesagt, die in-group der politisierten Kunst in den neunziger Jahren), durch den differenzierten Einsatz von Ausschlüssen, die mit der Notwendigkeit der Ausformung von Haltungen legitimiert wurden. Die siebte Meisterschaft analysiert die 'Exzellenz des Ersten', nicht als dem Erfinder eines 'neuen Pfades',

sondern dem, der die Erfindung zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort plaziert. Er schreibt: "Es gibt keine Kunst, dem Glück den Puls zu fühlen, weil sein Humor anormal ist", es aber bei der Wahl von Ort und Zeitpunkt der Plazierung, genau darum ginge, die Zeichen der Abweichung lesen zu lernen, damit der Held sein Glück berechne, bevor er etwas unternimmt. Der politisierten Kunst in der BRD, Österreich und der Schweiz gelang es nicht, die Exellenz des Ersten für sich zu verbuchen, ihr haftete immer der Beigeschmack einer US-Epigonalität an.


WAS IST MÖGLICH UND WAS IST AUSGEDIENTE MILCH?

Eine Aussicht mit Licht verspricht es, das Konstrukt von Gracians 'Helden' samt seiner Masken auf die Formen politischer Arbeit zu übertragen um deren Instrumentarium in der Hülle einer schützenden Mimikry durch eine Zeit extremer Entpolitisierung samt der Entwertung all ihrer Begrifflichkeiten zu transportieren. Um es mit Gracian zu formulieren, geht es momentan eher darum fast zu verschwinden und sich darin zu schulen, dem Glück den Puls zu fühlen, um ein wieder aufgeladenes Arsenal symbolischer Politik zu dem Zeitpunkt, an dem sich Geschichte wieder verdrehen lässt, vital zu machen. Der so verpackte Held hört nicht auf zu wünschen, auf seinem Antlitz wird der Wunsch aber unsichtbar.



(Erschien in * dagegen dabei - Strategien der Selbstorganisation seit 1969 * Edition Michael Kellner, Hamburg 1998).