Hans-Christian Dany

Nach oben fallen


Nicht, dass der Zustand ihm unvertraut gewesen wäre. Er kannte ihn schon lange. Sie waren gute Bekannte, er und seine Schwäche für das Diffuse, das wollte er nicht verschweigen. Letztlich mochte er sie sogar sehr, die Stimmung des Verhangenen, in der ihm das Gesicht langsam nach vorne fiel, schwarze Zwerge leise gute Nacht sagten. Doch diesmal war etwas über seine Ufer getreten.
Der Wunsch zu rauchen klopfte an die Tür. War da genug Kraft, um auf den Flur zu gehen? Sollte er es einfach hier im Zimmer tun? Das Gezeter des Personals kannte er ja schon. Er setzte die Vorstellung auf ein Karussell, wo sie auf einem Holzpferd dampfend ihre Runden drehte.
In Anwesenheit der Zwerge genügte eine leichte Bewegung, meist hob er nur kurz den Kopf vom Kissen, und ihm war, als würde er fast schwebend durch eine Landschaft wandeln, ohne recht zu wissen, auf welchem Stern er sich gerade befand. Vor seinen Augen ereignete sich Seltsames, das bei jedem Schritt noch bizarrer wurde. Für Unterhaltung war also gesorgt, hier auf dieser, so ließ es sich sagen, Reise.
Wieder sah er auf die Zigaretten. Gegen den Gang zur Raucherecke sprach, dass es vor der großen Scheibe kühl sein konnte. Es war Februar. Noch anstrengender war die Vorstellung, dort die Versuche abzuwenden, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Sie taten für gewöhnlich lustig, einfach weil sie beisammen hockten - schienen nicht mal von ihrer Langeweile beunruhigt.
Wie kam jemand dazu, Kunstkritiken zu schreiben?
Die Verwalter seines Zustandes vertraten die Ansicht, es sei noch zu früh für ihn, um für Spaziergänge das Haus zu verlassen. Ihm war das recht, da er es als Form der Konzentration empfand. Es half ihm bei der Komplexitätsreduktion. Herauszufinden, wie es um die Dinge stand, ob sie zusammengehörten oder ob es sich um eine Ansammlung von Teilchen handelte, die er verzweifelt montieren wollte.
Die Zeit war knapp gewesen, als er die Koffer gepackt hatte, deshalb fand sich wenig darin. Ein Trainingsanzug, ein Anzug, eine überzahlte Hose aus Italien, eine blaue Jeansjacke, Unterwäsche, acht Paar Socken - die Zahl war ihm wichtig. Sah er geradeaus, lag alles ein wenig verwühlt im Schrank, dessen Tür offen stand. Es lag da so aufgebauscht herum, als solle die Inventur noch einmal wiederholt werden. Oder hatte er einfach vergessen, die Tür zu schließen? Aber Zufälle gehörten gerade nicht zu seiner Wirklichkeit. Also prüfte er den Bestand. Die Farbe des Anzugs, etwas Wässriges, das für Grün gehalten werden konnte. Die beige Hose, erst ein paar Wochen alt, war schon am Saum aufgestoßen, wohl der Preis für eine gewisse Lässigkeit, die sie mit sich bringen sollte. Hier machten solche Defekte eher den Eindruck, das Leben nicht im Griff zu haben. Auch knitterte sie, wenn er sich mit ihr ins Bett legte. Es lief also auf den Trainingsanzug hinaus. Durch die Konzentration auf das eine Kleidungsstück ergab sich kaum Gelegenheit, dieses zu waschen. Die Baumwolle nahm Geruch an. Es war mehr ein Wissen darum, als dass er ihn wahrnehmen würde. Zuhause hatte er den Trainingsanzug gern am Schreibtisch getragen. War es Arbeit, was er hier tat? Das Gedruckte, das er bei seiner Ankunft unterschrieben hatte, konnte er nicht lesen. Er war zu unkonzentriert, zu scheu, um zu fragen, was darin stand. Als sie ihn hierher schickten, verabschiedeten sie sich mit dem Satz: "Ruhen Sie sich mal richtig ...". Sie verschluckten das Ende des Satzes, fast aller Sätze, in den kurzen Gesprächen, die er mit ihnen führte. Betrachteten sie ihn als krank? In jedem Fall war das hier wohl als Kur zu betrachten. Oder, wenn das einen großen Unterschied machte, als die Situation, die er sich seit langem erträumte. Umstände, in denen für alles gesorgt war. Ein Ort, der den Rest der Welt mit einer Milchglasscheibe auf Distanz hielt. Später würde er es sein remodeling nennen. Mochte auch wenig geschehen, so änderten sich zumindest die Begriffe.
Er musste daran denken, was er einmal über Howard Hughes gelesen hatte. Der habe es nicht mehr ertragen, von anderen gesehen zu werden. Die einzigen Zimmer, in denen er sich noch aufhalten konnte, waren winzig, glichen einander wie ein Ei dem anderen. Es ging nicht nur darum, den Eindruck zu beseitigen, er bewege sich, sondern die Orte genau vorhersehbar und erwartbar zu gestalten. Die Fenster waren verdunkelt, weder das Sonnenlicht noch Bilder durften eindringen. An Stelle eines Ausblicks zeigte er sich die immer gleichen Filme.

Auf der Karte in seinem Kopf gab es viele kleine Fahnen. Einige, sie waren gelb, markierten die allgemeine Behauptung, wie Kunstkritik funktioniere. Fast eine Betriebsanleitung.
Besah er jetzt, was in Zeitungen und Magazinen als Kunstkritik gereicht wurde? Was die Bestandteile wollten, was sie sollten, hing als grauer Duft unter der Lampe, während der Hunger sich in eine stille Ecke verzog.
Er hatte nicht nur Kunstkritiken gekocht, sondern serviert, Menükarten geschrieben, war als Gast gekommen. Er war dabei gewesen. Was dann geschah, kam schleichend, dann immer schneller. Nach einer Phase, in der er seine Tage damit verbracht hatte, kleine weiße Klötze mit einer Kreditkarte zu pulverisieren, war er stundenlang auf und ab gegangen, in seiner großen Wohnung.
Wohnung? Zwar lag da ein Futon auf dem Boden, aber er schlief kaum noch. Ein Bad gab es nicht, warum auch, in seinem Mietvertrag stand, es handle sich um ein Büro. Er besaß eine Dauerkarte für das nahe gelegene Hallenbad. Wurde ihm kalt, konnte er dort die Sauna benutzen. Es war die Welt, in der er lebte, und wenn sie ihm nicht passte, konnte er gehen. Aber das wollte er nicht. So war es auch nicht seine Absicht gewesen, diesen sich immer weiter weg biegenden Abzweiger sonderlich wichtig zu nehmen. Sein Versuch war gewesen, ihn rasch abzutun, weil er abgetan werden musste, damit er ganz als derselbe zurückkehren könnte, als der er abgefahren war, und sein Leben genau dort wieder aufnehmen, wo er es für einen Moment liegen gelassen hatte, als eine verschaltete Weiche ihn auf Umwege befördert hatte. Schien es anfangs noch reizvoll, dass sich die Bilder vor dem Zugfenster in Unbekannteres wandelten, gesellte sich zunehmend das Gefühl dazu, in einem Zug zu sitzen, der zu spät kommt, einen Anschluss nach dem anderen verpasst. Er konnte nur noch über sich immer komplizierter gestaltende Konstruktionen versuchen, an sein Ziel zu kommen. Während die Aussagen der Schaffner vager wurden, ihre Bücher keine Auskünfte mehr lieferten, stellten sich Zusammenhänge immer seltener ein, sackten die Reste einer vertrauten Wirklichkeit, von der er sich immer weiter entfernte, in sich zusammen. Beim Wechseln von Bahnsteigen kam er nur noch dort an, wo der andere Zug schon nicht mehr wartete. Auf den Gängen dazwischen wurde schon ein leichtes Handgepäck zum am Boden klebenden Gewicht. Alles bekam aber nicht nur einen Hang nach unten, sondern gab auch seinen Bedeutungsrest beim Schaffner ab. Was nicht freiwillig getan wurde, besorgten durch den Bahnhof streifende Kontrolleure. Wie er es auch drehte, erwischte es seine Worte ohne Fahrschein. Noch auf dem Bahnsteig wurde ihnen endgültig das Recht auf Weiterfahrt abgesprochen. Er stand dazwischen herum, wollte es nicht glauben. Jetzt versuchte er, die Kontrolleure zu fotografieren. Während er den Apparat aus der Tasche zog, traten sie auf ihn zu, um ihm durch ihren Sprecher mitteilen zu lassen: "Wenn Sie ein Foto machen, ist der Apparat platt. Damit Sie es wissen, die Nähe der Körper ist ein Geschenk derer, die keine mehr haben".
Einiges geschah noch, an vieles konnte er sich nicht mehr erinnern. Was es auch genau war, es beförderte die Umstände seines Denkens in eine Unmöglichkeit. Mit den noch beweglichen Teilen seines Körpers rudernd, manövrierte er sich in den Zusammenbruch. Der dort schon länger auf ihn gewartet hatte.
Es hatte eine Ahnung gegeben, dass er kommen würde. Wie es geschah, überraschte ihn. Jetzt schienen die Dinge ganz einfach. Letztlich ließ es sich nur so beschreiben, als hätte einer alles Licht ausgeschaltet.
Seit einiger Zeit, wie lange es genau war, konnte er nicht sagen, lebte er hier am Land. Man versorgte ihn mit einem Grundwissen über das Geschehene. Er hatte Bausteine.

An den Dingen, denen der Flair von Krankenhaus anhaftete, war gespart worden. Auch wäre es zu einfach, es so zu nennen. Die Farben waren mit Überlegenheit gewählt, da von längerem Aufenthalt ausgegangen wurde. Man hatte eine Vorstellung davon, wie sich die Gäste wohl fühlen könnten. Es gab Vorrichtungen, die möglicherweise dazu dienten, mitgebrachte Dekorationen aufzuhängen. Überhaupt hatte die Einrichtung, mit Versatzstücken aus einer Zeit vor Ikea, eine unbestimmte Form, die alles Mögliche sein konnte. Der Teppich war braun, das Metall grau, das Holz weiß überzogen - nichts wollte auffallen. Es gab kaum Spuren seiner Vorgänger, das war kein Ort, den man markieren wollte.
Insgesamt war das Zimmer recht leer, so dass die Gedanken Platz hatten, darin herumzutappen. Manche tauchten immer wieder auf. Es gab Tage, an denen sich Einzelne freundlich grüßten. Nie setzten sie sich gemeinsam an einen Tisch. Sollte er ein besserer Gastgeber werden? Stundenlang betrachtete er den Garten vor seinem Fenster. Sicher, die Kastanie war schön. Bei Gelegenheit bog sich ein Regenbogen, doch das war nicht sein Grund, dort hinzusehen.
Wenn es dunkel wurde, betrachtete er den Körper, aus dem er da hinausblickte, im Licht der Nachttischlampe. Das war sein Finger. Es waren seine Lippen, und also was weiter? Er leckte an seiner Hand, biss hinein, aber sie blieb ihm fremd. Im Zeigefinger gab es ein Zucken, das ihm früher nicht zu Eigen gewesen war. Bald kam er sich vor wie einer, der so lange darauf gewartet hatte, dass etwas geschah, bis er vergessen hatte, was dies etwas sein sollte.
Der Anlass, seine Notizen wieder aufzunehmen, war, dass sich Anzeichen eines trägen Darmes einstellten. Nichts Neues, sondern als ob die Sprache der Worte wieder zu reden begänne. Während die Vorstellung im Park spazieren ging, wurde ihm klar, dass es sich um seinen Darm und seine Trägheit handelte, die dort Hand in Hand gingen. Alte Bekannte. Die Folge war schon seit Jahren eine überhöhte Anstrengung bei der Auswertung von Nahrung. Verstopfung schien der falsche Ausdruck, aber der Körper musste sich genau überlegen, was er zu sich nahm.
Die Anfälligkeit seiner Verdauung überlagerte sich mit seiner Arbeit. Wenn er überlegte, produzierte seine Beschäftigung mit dem Schreiben ganz ähnliche Symptome. Er nagte an etwas, das Etwas nagte zurück. Dazwischen begannen die Brücken ihr Eigenleben. Buchstabengebilde, aus denen Text werden sollte, verwandelten sich in fingernagelgroße Amphibien, die in Horden langsam alle Ein- und Ausgänge des Körpers verklebten.
Eine Ursache der Viech-Aufstände gegen seinen Körper war zwar gelegentlich unbekömmliche Kost, aber viel öfter waren es zu kurz berechnete Verdauungszeiten. "Und was ist schlimm daran, arrangiere dich", sagte eine schwarze Zwergin, die - ohne dass er es bemerkt hätte - in sein Zimmer getreten war. Obwohl es keine Frage war, stammelte er: "Ich habe mich doch bemüht, alles versucht...". Mit verquältem Gesicht wandte sich die Zwergin ab und dachte in ihrem transparenten Kopf: "Jeder ist glücklich, wenn er mitmachen darf. Und du, du beklagst dich. Du Sau".
Als er wieder allein dalag, wurde ihm die Zwergin für einen Moment egal. Er erlaubte sich den Gedanken, dass dies alles schon Grund genug sei, sich der Textproduktion zu entledigen. Vorläufig lief es auf eine Art Doppelleben hinaus, in dem ungewiss blieb, in welcher Gestalt er eigentlich er selbst und in welcher er verkleidet war. Sollte es sich einmal entscheiden, denn dass er sich entscheiden würde, wäre schon zuviel gesagt – ja, war dann was?

Der Aufenthalt hier, war das eine Möglichkeit auf Dauer? Irgendwann würden sie ihn wieder vor die Tür setzen. Er schrieb schon wieder, davon wusste niemand, zu sorgfältig versteckte er alles.
Er fasste sich zwischen die Beine, begann sich zu berühren. Schnell kam der Moment, in dem er sich überlegte, ob er es sein lassen sollte, entschied sich aber dafür. Es ging schnell, mit einigen unscharfen Vorstellungen des Eindringens in wechselnde Körper. Kurz nachdem er gekommen war, wusch er sich die Hände und verließ das Zimmer. Er brauchte einen vernünftigen Blutdruck, sonst kriegte er Zufälle.
Schlechte Laune vortäuschend setzte er sich zu den anderen Rauchern. Vor allem war es seine knappe Zeit, die es ihm nicht erlaubte zu sprechen. Zu lang war es ausgeblieben, dass er sich mit einer Person außerhalb seines Körpers wirklich unterhalten hatte. Er musste arbeiten; da er es nicht bei dem einen Grund belassen konnte, musste er weitere Gründe sammeln, aus denen sich ein Flucht- und Ernährungsplan entwickeln würde.
Seine Sammlung stand auf tönernen Füßen. Im nächsten Moment fürchtete er zu erkennen, warum er Kunstkritiken schrieb. Er zitterte, versuchte den Horizont aus seinen Augen zu schlagen. Ein durchsichtiges Massiv.
Der Ausweg schien ihm, eine Karte zu zeichnen. Er begann, auf dem handtellergroßen Block, den er unter seiner Matratze verbarg, Details zusammenzutragen. Erstes Missverständnis mit der Kunstkritik: Sie schien ihm als Möglichkeit, ohne geregelte Arbeit an ein Einkommen zu gelangen.
Auf eine Art war ihm der Irrtum zugelaufen. Er kam plötzlich aus seinem Telefon gekrochen. Eine Stimme fragte, ob er eine Ausstellung besprechen wolle. Zwar hatte er das noch nie getan, aber was sprach dagegen? Der zehn Jahre jüngere Mann sagte zu. Mit der Bahn fuhr er in die andere Stadt. Dort angekommen fand er die Ausstellung geschlossen, die Frau an der Kasse war zu früh nach Hause gegangen. Er nahm den Zug zurück. Da er seinen Auftrag erfüllen wollte, beschrieb er das Nichtgesehene anhand des Beipackzettels. Das war leicht, und niemand schien etwas dagegen zu haben, dass er die Wirklichkeit verpasst hatte. Und er, er hatte keine sonderliche Meinung von ihr.
Von diesem Ausflug hätte er fast alles lernen können, aber das verstand er erst in Raten. Später erkannte er: Bezahlt wird Kunstkritik, neben einer Art Taschengeld - etwas weniger als sie hier in der Kur bekamen -, vor allem in einer wohl extra zu diesem Zweck erfundenen Währung. Geld, für das man keiner Brieftasche bedurfte - vage, empfindlich und modern -, manchmal versteckte es sich und tauchte nie wieder auf. Alle redeten davon, schienen sich auszukennen. Dieses symbolische Kapital sollte später umgetauscht werden, wenn er sie richtig verstand. Aber die Wechselstuben hatten begrenzte Umtauschstunden. Da er sich mit der Pünktlichkeit schwer tat, häufte sich über die Zeit viel Ungetauschtes an, das schon durch kleine Fehler, ein falsches Wort, in den Strudel der Inflation geraten konnte. Er begann sich für die Besetzung einer Figur in der Verfilmung von `Tod auf Kredit´ zu halten. Dann verlor er seinen Drehplan, wusste nicht mehr, wann und wo er am Set sein sollte.
Jetzt wurde das Abendbrot serviert. Nudeln mit Thunfisch und Tomatensoße. Er versuchte das zu übergehen, sich nicht davon ablenken zu lassen. Bevor er das Essen kalt werden ließ, musste er vor den Augen des Kellners die Medikamente einnehmen.

Da er mit seinem Schreiben kaum Geld verdiente, glaubte er sich eine andere Begründung überlegen zu müssen, weswegen er tat, was er tat. Er fand heraus, wie wunderbar sich die innere Leere damit vertreiben ließ, Texte in das vorgesehene Format zu schreiben. Es tat sich wie von selbst, dass sie sich immer wieder langsam bis zum Rand füllten. Nur verbrannte seine Zeit. Und mit dem Schatten laufen, das war was anderes. Die Verwechslung ließ sich nicht mehr unter den Tisch kehren. Er gestand einer Instanz, dass alles ein großer Bluff seiner selbst gewesen war. Der Dienstleister bückte sich und weinte. Sicher, es gab auch die schönen Seiten des Versprechens, in einer neuen Masse aufzugehen, aber das Leere ließ sich so auf Dauer nicht voll machen. Auch war es immer sein Plan gewesen, keinen Stuhl zu besetzen, da er die Vorstellung hatte, daran festzukleben. Er war in die Falle getappt, begann seine Arbeit als Besitz zu begreifen, verstieg sich in die Vorstellung, es gäbe etwas zu verlieren. Seine Grundannahme war gewesen, einen anderen Ehrgeiz zu besitzen. Gerade rutschte er immer tiefer in das, was er verachtet hatte. Begann den dem Metier eigenen Gestus permanenter Aufgeregtheit über nichts anzunehmen.
Wie das Geständnis so nackt auf dem Tisch lag, warf es ihn aus allen Wolken. Zu seiner Verwunderung trug er einen Helm, auf seinem Rücken befand sich ein Fallschirm. An dem Helm war eine Videokamera montiert. So konnte er, was jetzt ganz schnell geschah, später halbwegs rekonstruieren. Auf dem Video sah er den Springer, also sich selbst, in die Kamera feixen. Der erste Schirm öffnete sich. Er ließ sich noch einige Sekunden weiterfallen. Plötzlich begannen Himmel und Erde sich wild im Kreis zu drehen. Vorschriftsmäßig, woher er das auch wissen mochte, sprengte er den Hauptschirm ab, der öffnete sich durchs Bild. Er stürzte er in ein ungepflügtes Feld. Eine Bäuerin, die Spargel stach, sah ihn empört an. Während er sich vom Acker machte, rief sie ihm nach: "Der gute Ruf würde es nicht erlauben, eine Reise ins Ich anzutreten”.
Nun wollte er mindestens einmal in der Woche aufhören mit der Kunstkritik, sie zumindest nicht mehr selbst schreiben. Das Lesen schien ihm gar nicht so schlimm. Ein Irrtum, verführte ihn das Lesen doch dazu, wieder anzufangen mit dem Schreiben. Lesend erregte er sich, wollte etwas dagegensetzen, war wieder ein Hamster im Rad. Ein Hamster, der davon ausging, dass es eine klare Vorstellung davon gab, wer es und was tun dürfte und wer es lassen sollte. Dass es Listen gab, die darüber genau Auskunft gaben. Und dass man Dinge tun musste, nur um dagegen anzugehen.
In seinen Notizen vermerkte er, es sei mit dem Schreiben von Kunstkritiken fast so, wie mit dem Rauchen. Wenn Raucher das Rauchen aufgeben, haben sie, sagt Allen Carr, der Autor von `Endlich Nichtraucher!´, drei Gründe: ihre Gesundheit, finanzielle Erwägungen oder den Wunsch, der sozialen Ächtung zu entrinnen.
Kurze Momente des Genusses, in denen er glaubte, etwas zu erkennen, das sich ohne das Schreiben in der Kunst nicht gezeigt hätte, waren ein Argument, genauso, wie die glücklichen Momenten, in denen der Text in Fluss kam. Meist fühlte sich das Schreiben von Kunstkritik wie Migräne an. Er führte es immer auf seine Unfähigkeit zurück, seine Trägheit beim Hineinschreiben in die wenig benutzerfreundlichen Verästelungen der künstlerischen Konstruktionen. Sicher, er rauchte, wie so viele, trotz Krebs, vielleicht gab es ja noch ein Leben als Regenwurm. Da war die Gemeinschaft kleiner, die etwas durch Text als Kunst vervollständigte, und die zu erwartende Krankheit nicht so genau definiert. Dass er es trotzdem tat, das Schreiben und das Rauchen, war ein Ergebnis jahrelanger Gehirnwäsche.
Letztlich brauchte es für das Schreiben von Kunstkritiken aber gar keinen Grund, genauso wenig wie für das Rauchen. Man tat es, es hatte sich so ergeben und man hatte sich daran gewöhnt.
Raucher wurden benötigt als Wirtschaftsfaktor und weil die Mehrheit der Menschen mit Zigarette im Mund einfach besser aussah. Bei Kunstschreibern war der Bedarf wesentlich unklarer. Und wer sah schon am PC gut aus? Sein Eindruck war auch, dass es seit einiger Zeit immer weniger Bedarf nach Kunstkritik gab. Die zurückgehende Nachfrage setzte mit dem Aufschwung des Marktes ein. Das Gros der zur Zeit florierenden Unternehmen - Konstruktionen von Künstler-Identitäten und deren Verwertung - funktioniert ohne relevante Texte. Die Dinge und neuen Subjekte sprachen für sich, eine Behauptung, die das Geschäft belebte. Zwar wurden da noch Buchstabenhaufen hingekippt, doch schmeckten sie wie Sättigungsbeilagen. Waren Text gewordene Stellvertreter. Verlassene Häuser, aus denen es dampfte. Mustergültige Kücheneinrichtungen. Warum die Texte nicht einfach aufgeben? Vielleicht war es nur ein blöder Einfall der Moderne, eine haltlose Überbewertung des Schweigens von Duchamp.
Ein Vorhang ging auf, der renitente Charakter in einem farbverschmierten Trainingsanzug kreischte mit sich überschlagender Stimme: "Ja, dann gerade trotzdem, und den Fit-for-fun-Terror wollten wir noch nie mitmachen. Zerstört...". Nun waren nur noch einige unverständliche Worte zu hören, die in einem Schlucken verschwanden. Das schien wohl nicht geplant, der Vorhang schloss sich nur zögerlich. Der Chor sang: "Wer arbeitet, ist ein Schwein".
Er fühlte sich genötigt, genoss es zugleich. Immer zwingender erschien ihm die Vorstellung, ein Schild mit sich herumzutragen, auf dem stehen sollte, "Melancholie ist Widerstand". Schnell wurden ihm immer öfter Münzen in die Hand gedrückt. Während die Geldstücke in seiner Hand einen Reigen bildeten, baute sich vor seinem Bett ein Mann im Anzug auf. Er gehörte nicht zum Personal, das war sofort zu erkennen.

(Fortsetzung folgt)

Starship Nr. 4, Berlin 2000.