Hans-Christian Dany

Hinter Gittern ist der Honig bittern


Einst kam Sindbad auf eine Insel. Hier traf er einen alten Mann, der ihn bat, ihn an das andere Ufer des Flusses zu tragen. Sindbad ließ ihn aufsitzen und trug ihn auf die andere Seite. Dort angekommen hatte der alte Mann aber Gefallen am Reiten gefunden und wollte nicht mehr ab-steigen. Der Alte krallte sich an Sindbad fest und würgte ihn. Da musste Sindbad ihn weitertragen. Der alte Mann blieb wochenlang wie angewach-sen auf ihm festgeklammert.
Eines Tages setzte sich Sindbad einen Kürbis mit Wein an, von dem wollte der Alte natürlich auch trinken. Sindbad gab ihm den Kürbis und der Alte trank ihn auf einen Zug und versank in einen tiefen Rausch. Auf der Stelle war er abgeworfen und Sindbad trat ihm mit seinen Hufen den Schädel ein.


Lieber ein verrückter als ein falscher Heß

Berlin 1941: Das für Hitler Beunruhigendste am Überflug von Heß nach Schottland war der Kontrollverlust über dessen Mediendasein. Zwar schätzte er Heß so integer bzw. harmlos wie Leberwurst ein, dass er sich nicht vorstellen konnte, sein Rudi könne sich beim BBC vor ein Mikro-fon stellen. Denkbar war aber schon, dass die BBC einen Stimmimita-tor einsetzen würde. Hitler war glasklar, Heß musste dem deutschen Hörer auf der Stelle für verrückt erklärt werden, um einem eventuellen Auf-tauchen der heßschen Stimme in der BBC vorzubeugen. Hitler ordnete an, dass der Name Heß, der besonders zu Weihnachten so beliebt brum-melnde Heß, gelöscht werde. Der auf einmal nicht mehr still- und heilighaltbare Heß, dieser für ihn körperlos gewordene, der nun vielleicht vom einen auf den anderen Tag unkontrolliert in der BBC losplappernde Weihnachtsmann Heß, musste als geliebter Radiomund gestopft werden.


Hoppe hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er

Spandau 1949: Albert Speer schreibt planmäßig täglich eine Seite, ergibt in vier Jahren eine Strecke von 1500 eng beschriebenen Seiten. Erinne-rungen an die fröhlich-ausgelassenen Fahrten im superschnellen BMW, mit den Kindern auf der von Bormann in den Fels gesprengten Straße hinauf zu Hitlers Adlernest. Die Nachmittage dort waren unlustiger. Man wartete auf Hitler. Bormann versuchte tumb mit den Damen zu scherzen. Eva Braun hielt sich an der Kamera bereit, Seinen Auftritt zu filmen. Als Er dann kam, trug Er eine etwas zu aufdringliche Krawatte, was sich auf den Agfa-Bildern farblich noch verschärfen würde. Gegen den Ihm dro-henden Sonnenbrand - Agfa saugt Rot wie wild - trug Er einen Hut, dessen Krempe breiter war, als es die letzte Mode vorschrieb.


Vorstellmaschine Null und Eins

Spandau 1954: Speer überlegte: Heß hatte ihm gerade mitgeteilt, dass er von seinen Vergiftungsvorstellungen Abstand genommen habe, da diese mathematisch betrachtet keinen Sinn machten. Deshalb könnte er Heß nun vielleicht doch als Sozius einweihen.
Speer wanderte sich häufig in einen solchen Imaginations-Rausch hinein, dass er mit dem Zählen nicht mehr sauber nachkam. Vor zehn Tagen war er hier gestartet und jetzt rechnend mitten auf dem Weg nach Heidelberg. Er kreiselte immer wieder um die Minimodelle seiner Architekturen, die er sich im Garten aus Backsteinbruch gebaut hatte. Die aufaddierten Runden ergaben Kilometer, die er sich dann in die Länge ausgerollt dachte. So ließen sich ideale Landschaften durchwandern. Heß saß mit flackerndem Gemütlichkeitsblick am Rande des Parcours. Speer fragte ihn, ob er nicht doch bitte für jede seiner Runden einen Strich in den Sand ziehen könne, damit das Addieren am Abend leichter fiele und er sich weiterhin präzise orten könne. Heß sah ihn lange an, dann ging er plötzlich hinüber zu seiner Bohnenpflanzung und brach eine Hand voll weißer Bohnen ab. Er drückte Speer die Hackfrüchte in die Hand und sagte: Diese Bohnen tun Sie alle als Null in die linke Hosentasche. Für jede in die rechte Tasche umgepackte Bohne gehen sie eine Runde. Alle Bohnen in der rechten Ho-sentasche ergeben am Abend die zurückgelegte Strecke. Auf dieser Benutzeroberfläche ist Speer, der Autofan, gen Istanbul gewandert. Alle Bohnen durchfloss die Idee weiterzugehen. Da Heß Speers Gehen nicht mitzählte, schrieb dieser selber einen Wälzer Erinnerungen davon. Denn die Reise gibt es erst, wenn von ihr erzählt wird.

Los Angeles 1969: John T. Draper, Funktechniker der U.S. Luftwaffe, spielt beim Frühstück mit einer als Gimick seinen Corn Flakes beigelegten Trillerpfeife. Er entdeckt, dass sich mit der Frequenz genau dieser Tril-lerpfeife das Telefon zu kostenlosen long-distance-calls öffnen lässt. Seitdem nennt er sich Captain Crunch und pfeift sich wie Ilse Werner um die Welt. "Von Tokio ging meine Stimme nach Indien. Indien verband mich mit Griechenland, Griechenland mit Pretoria. Südafrika verband mich mit Südamerika, von Südamerika lief ich nach London, und ein Londoner te-lephone-operator stellte mich nach Kalifornien durch. Das zweite Telefon auf meinem Tisch schrillte, und das Echo kam von ganz weit her, es war zeitverzögert, und es war einfach phantastisch."
An dieser Stelle könnte man darüber nachdenken, ob die Firma Kellogs mit ihren Geschenken eine neue Form von Verbrechen stiftete.


Pfennigfuchser

Fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben.
Main etc. 1979: Der General exerziert jährlich einen Marathon durch die USA. 100 Jugendliche laufen, anfangs freiwillig, so lange weiter, bis nur noch einer, der Sieger, von ihnen am Leben ist. Regelverstöße, wie Ver-langsamung oder das Verlassen der Straße, werden mit Genickschüssen geahndet.
Augenblicklich hörten sie wieder Schüsse. "und wieder einer", sagte Mark mit näselnder Stimme und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. "Vierunddreißig", zählte Pearson und nahm einen Penny aus seiner rechten Hosentasche und steckte ihn in die linke. "Ich hab' mir neunundneunzig Pennies mitgebracht", erklärte er. "Jedesmal, wenn einer stirbt, stecke ich einen in die andere Tasche. Das ist meine Totenuhr, sie soll mir Glück bringen."


Log in out. Gott weiss, dass der Geist leicht ins Schleudern kommt

In diversen VAXen 1987: Zu dieser Zeit kurvten besonders bundesdeut-sche Hacker weltweit mithilfe von LIO, einem nach der Strategie des tro-janischen Pferdes arbeitenden Programm, durch etliche Großrechner des militärisch-industriellen Komplexes. LIO wurde an den Eingängen der Rechner postiert und fragte neben dem eigentlichen Kontrolleur die Ein-tretenden nach ihrem Passwort. Die gesammelten Passworte konnte der Installateur von LIO dann absaugen und wie einen Generalschlüssel ver-wenden. Eine weitere Funktion von LIO war es, den Eindringling auf der Benutzerabrechnung des Kommandanten der VAX mit einer elektronischen Tarnkappe zu versehen.


Fahrende Bilder - plaudernde Ta-schen

Tokio 1991: Nikon rät den Teilnehmern ihres Fotowettbewerbs, auf den eingesandten Fotos in keinem Falle Schamhaar sichtbar werden zu lassen, der japanische Zoll würde die Fotos ansonsten auf der Stelle verbrennen.
Hamburg 1992: Jürgen Christ (30), Hacker und Chaos Computer Club-Mit-glied, ist wegen seiner Weltanschauung von der Wehrbereichsverwaltung III als Wehrdienstverweigerer anerkannt worden. Er könne sich als Hacker grundsätzlich nicht an die Geheimhaltungsvorschriften halten.


Chibas Elektro Sturz

Das Virus von Hans hatte ein Loch in das Eis des Archivs gebohrt. Hans hackte sich durch und stieß auf einen unendlichen Raum farbkodierter Sphären, die wie auf ein enges Gitter aus hellem Neon aufgezogen waren. Der Plattraum seiner Matrix besaß das Innere einer beliebigen Befehlsar-chitektur, eine grenzenlos persönliche Dimension; ein Spielrechner für Kinder, gekoppelt mit dem Apple von Hans, hätte mit ein paar Grundbe-fehlen grenzenlose Schluchten des Nichts hervorgezaubert. Hans begann die Sequenz einzutippen, schon glitt er wie auf unsichtbaren Fäden durch den Raum. Hans hatte eine tote Beifahrerin. Die dixie-flatline, eine festverdrahtete ROM-Cassette, üppig gefüllt mit dem kompletten Wissen einer verstorbenen Hackerin, deren coprozessierendes Pulsieren Hans vor Neid erblassen ließ. Molly, seine zweite Freundin, eine wohlgeformte Be-nutzeroberfläche, wanderte als Körper für ihn. Aber dann bemerkte ein Pförtner: Molly, du hast einen Reiter. Und Hans musste vorerst absteigen.

Spuren Nr.42, Hamburg 1992.