Die Weltwoche [Ressort Kultur]
Ausgabe Nr. 30/99, 29.7.1999

Laboratorium für Cyberfreaks

Das Internet wird zum Experimentierfeld für Künstler: am Beispiel des
Basler Webprojekts Xcult

Von Barbara Basting

Im Internet ist alles wohlfeil. Warum also sollte man nebst Büchern,
Flugreisen, Pornographie und Joghurt nicht auch Kunst per Mausklick
kaufen? Grenzen setzt dem allenfalls die Verpixelung.

Kunstwerken bekommt die Zwangssterilisation durch Digitalisierung
selten gut. Dass aber die Verbindung der Vorteile des
Internet-Shoppings mit Pixel-Zwängen auch eine neue Spielart von Kunst
hervorbringen kann, zeigt überzeugend der «Still Life Take Away» von
Monica Studer und Christoph van den Berg. Der Besucher ihrer Website
(www.xcult.ch/ateliers/ateliers2/ stuvdberg/verteil.html (bis 15.
August auch in der Ausstellung «Young» im Fotomuseum Winterthur) kann
per Mausklick aus einer Palette von farbenprächtigem Plastiktrash
(Müllsäcke, Kühlaggregate, Trinkhalme) auswählen. Studer und van den
Berg kreieren aus dem Angeklickten ein Stilleben, fotografieren es und
stellen dem Kunden vom Resultat einen gross-formatigen
Computer-Ausdruck zu. «Innert zehn Tagen.» «Jetzt kann sich jedermann
Kunst leisten – Sie bezahlen nur, was Sie sehen.» Augenzwinkernd wird
hier der seit Plato unausrottbare Verdacht aufs Korn genommen, Kunst
sei eine gewitzte Form des Betrugs. Der «Still Life Take Away»
steigert die Kommerzialisierung des Web, seine Funktion als
Bestellparadies ironisch ins Absurde. Kunst wird plakativ zur
Allerweltsware. Die Interaktivität des Kommunikationsmediums erweist
sich als trügerisch. Denn trotz der Wahlmöglichkeiten steht einem eine
Überraschung frei Haus bevor.

Vorläufer eines neuen Künstlertyps Die Website von Studer und van den
Berg ist nur einer von zahlreichen sehenswerten Cyberart-Beiträgen auf
dem Server von www.-xcult.ch, einem mit Engagement und Idealismus
betriebenen Kulturnetprojekt von Reinhard Storz, Dozent an der Basler
Schule für Gestaltung. Es besteht seit März 1997. Die Liste der
Künstler, die für Xcult gearbeitet haben, liest sich wie ein Who’s who
der jüngeren und jüngsten Schweizer Szene: Susanne Fankhauser, Teresa
Hubbard und Alexander Birchler, Danie-la Keiser, Claude Gaçon,
Chiarenza/Hauser, Andres Lutz, Lang/Baumann, um nur einige zu nennen.
«Xcult pflegt ein Anti-Design zum grafischen Mainstream auf dem Web»,
heisst es programmatisch. Die, gemessen an vielem, was das Web einem
zumutet, wohltuend klar gestaltete Eingangsseite unterstreicht diesen
Anspruch. Den Kern von Xcult bilden die «Ateliers», sorgfältig
ausgewählte und betreute Links sowie eine Auswahl von ergänzenden
Texten. Hinzu kommen temporäre Projekte, derzeit eine «Ramshow», für
die Künstler gemeinsam arbeiten. Storz, ein Internet-Aktivist der
ersten Stunde – er war 1995 an «The Swiss Thing», Ableger des
legendären New Yorker Webprojekts «The Thing» (http://www.thing.net/),
beteiligt –, sieht im Internet ein völlig neues Experimentierfeld für
die Arbeit mit Bild und Text. Für seinen Server interessieren ihn nur
Ideen, die im Internet plausibel sind, das heisst zugleich
fantasievoll und kritisch mit dessen Strukturen, technischen und
materiellen Vorgaben umgehen. Storz lädt Künstler ein, Netarbeiten zu
realisieren, steht ihnen nötigenfalls mit technischem Know-how bei und
hegt[Image] das Umfeld. Xcult «ist intellektuell und ästhetisch
parteiisch» – und hat keinerlei institutionelle oder kommerzielle
Verankerung. Alle Beteiligten arbeiten gratis, die Serverkapazität
wird vom Provider Datanetwork gesponsert. Sind die auf Xcult
vertretenen Künstler Vorläufer eines neuen Künstlertypus, der die
herkömmlichen Strukturen der Kunstvermittlung – Galerien, Kritiker,
Ausstellungen – via Web unterläuft? Dieser Aspekt ist zwar für die
meisten von ihnen wichtig, steht aber nicht im Vordergrund. «Sich auf
dem Internet zu präsentieren ist inzwischen eines der Mittel, um
interessierten Leuten die Möglichkeit zu geben, sich schnell über
einen Künstler oder ein Projekt zu informieren», bestätigt der
Künstler Philipp Gasser. Vor allem aber könne man Neues ausprobieren.
Dass das Internet ein kulturell kaum besetztes Terrain ist, «eine Art
konfuse Grauzone», fesselt auch das Künstlerpaar Chiarenza/Hauser
(«Relax»). Das Internet biete «ein riesiges inhaltliches und formales
Tummelfeld, das noch nicht von x Generationen bespielt und definiert
wurde», erklären Studer und van den Berg. Auch Identitäten kommen in
Fluss: «Was ist hier authentisch und identisch, was ist geklaut, was
ist synthetisiert, was ist Behauptung, was stimmt? Mit den
herkömmlichen Kriterien und Begriffen von Autorschaft und
Authentizität kann hier nicht mehr gearbeitet werden», gibt Daniel
Hauser zu bedenken und weist auf Veränderungen hin, die das Internet
im Begriffsgefüge unserer Gesellschaft weit über den Kunstkontext
bewirkt. Weil Chiarenza/Hauser davon ausgehen, dass es schon längst
keinen homogenen öffentlichen Raum mehr gebe, wollen sie auf diversen
Plattformen agieren – das Internet sei eine davon. «Die allgemeine
Medieneuphorie interessiert uns dabei überhaupt nicht.» Das Paar «Copa
& Sordes» (Eric Schmutz und Birgit Krüger) versteht seine Netzarbeit
«weder als Geste für noch gegen den Kunstbetrieb», sondern als
selbstverständliche «Beschäftigung mit dem Zeitgeist, den realen wie
auch virtuellen Medien». Studer und van den Berg glauben, dass
«künstlerische Manifestationen im Internet den Kunstmarkt zwingen,
neue Formen für die Vermarktung der Erzeugnisse zu finden». Der
Kunstmarkt sei nach wie vor scharf auf jede Innovation und werde auch
clever genug sein, sich diese Quelle nicht entgehen zu lassen. Mit
Foren à la Xcult hoffen diese Künstler, die Vermarktung der eigenen
Arbeit und die Richtung der Diskussion mitbestimmen zu können.

Reale und virtuelle Kunst Eine grosse Versuchsküche also, doch kein
virtuelles Wolkenkuckucksheim. Künstler wie Lang/Baumann loben am
Webprojekt Xcult, es biete eine ideale Mischung aus Interesse am
realen und virtuellen Kunstgeschehen. Derartige Projekte werden in
Zukunft wohl wichtiger. Denn wo Zeit und Aufmerksamkeit rar sind und
Suchmaschinen zu schematisch, gewinnt die an Inhalten orientierte,
passionierte und kritische Selektion an Bedeutung.

Die Utopien der Cyber-Kommunarden der ersten Stunde, die auf
weltumspannende Kommunikation setzten, scheinen dagegen eher passé.
«Beim Internet denken alle immer, es müsse partout global sein»,
spöttelt Storz. Doch zwei Drittel der Besuche auf Xcult kämen aus der
Schweiz, die Hälfte davon aus Basel. Persönliche Kontakte spielten
dabei eine wichtige Rolle. Wer hätte gedacht, dass der Cyberspace so
uncool ist! Eine Tendenz zur Verspieltheit scheint zur Netzkunst
ebenso zu gehören wie ein verwirrend hoher Ironiegehalt.
Wahrscheinlich ist dies sogar das Erkennungszeichen von Webart. Als
Modell für experimentelle Webräume kann Xcult allemal gelten.
Hierzulande ist Storz noch ein Pionier. Doch auf amerikanischen
Websites – zum Beispiel www.walkerart.org, www.diacenter.org,
http://stadiumweb.com, www.turbulence.org – findet man inzwischen mehr
Kunst, als mancher mittelprächtige Computer verkraftet.