Barbara Basting

Ikonen des Verlustes


Der enorme Preisanstieg historischer Fotografien zeigt, dass ein Kapitel der Fotografiegeschichte zu Ende geht.

Fetten Börsenjahren folgen fette Jahre für die Kunst auf den Fuss. Der Boom der Achtzigerjahre ist noch kaum verdaut, da hebt der Kunstmarkt zur nächsten Hausse an. Erstmals steigen jetzt auch die Preise für historische Fotografien rasant. Als Ende 1998 ein Sammler für einen Abzug von Man Rays "Noire et blanche" umgerechnet knapp eine Million Franken zahlte, horchten nur Kenner auf. Nun brachten vier Herbstauktionen in New York und die Versteigerung der einzigartigen Fotosammlung des Pariser Buchhändlers André Jammes in London Ende Oktober solch spektakuläre Ergebnisse, dass sogar seriöse Berichterstatter die Contenance verloren, von einer "Oktoberrevolution im Auktionssaal" und einem "Durchbruch für die Fotografie" schrieben.
Was ist geschehen? Die Sammlung Jammes wurde für durchschnittlich knapp das Dreifache des Schätzpreises zugeschlagen. Überdies erzielten zum ersten Mal in der zwanzigjährigen Geschichte der Fotoauktionen Aufnahmen aus dem 19. Jahrhundert Spitzenpreise, die von Sammlern bisher eher verschmäht wurden. Der Markt bevorzugte die Klassiker von Eduard Steichen, Alfred Stieglitz, Man Ray oder Paul Strand, jenen Fotografen, die zu Beginn dieses Jahrhunderts entscheidend dazu beigetragen haben, die Fotografie als Kunstform durchzusetzen. Jetzt setzte Gustave Le Grays "Grosse Woge, Sète" (1855) einen neuen Standard. Für rund 1,2 Millionen Franken, gut das Zehnfache des Schätzwerts, erhielt ein geheimnisvoller anonymer Telefonbieter, der auch sonst im grossen Stil einkaufte, den Zuschlag für die nun teuerste Fotografie der Welt.
Es sind nicht einfach nur satte Börsengewinne und Spekulationen, die in einem neuentdeckten Sammelgebiet die Preise nach oben treiben. Die enorme Wertsteigerung hat tiefere Gründe. Sie könnte ein Symptom sein für einen epochalen Bruch in der Wahrnehmung des Mediums Fotografie. Die Rückkehr zum Original, die sentimentaler Züge nicht entbehrt, kann man als Konsequenz der fortschreitenden Digitalisierung der Bilder sehen. Sie ist aber ironischerweise auch ein Nebenprodukt der Bilderinflation des visuellen Zeitalters - und diese wiederum verdankt sich der Allianz von Fotografie und Druckmaschine.
Denn in der Pionierzeit des Mediums bestand die eigentliche Revolution in der Entwicklung fotomechanischer Reproduktionsverfahren, mit deren Hilfe die Fixierung auf das Unikat überwunden werden konnte. Sie erst ermöglichten es, gegen Ende des 19. Jahrhunderts Zeitungen und Zeitschriften in grossen Auflagen mit Fotografien (statt mit Holzstichen, wie noch um 1850 üblich) zu illustrieren. Der eigentliche Durchbruch der Fotografie hing eng mit ihrer Verwendbarkeit für Massenmedien zusammen. Sie war auch die Grundlage für den modernen Fotojournalismus.
Doch die fotografische Revolution frisst am Schluss ihre Kinder. Nie zuvor in der Geschichte war der Mensch derart von Bildern umzingelt wie heute, nie zuvor waren diese eine so billige, qualitativ meist dürftige Massenware. Der wachsende Bilderberg entwertet die Reproduktionen - und macht die immer rareren Originale für Sammler zu wahren Fetischen und Ikonen eines Verlustes. Denn gute Bilder sind nicht mehr so leicht zu finden, jedenfalls nicht mehr auf Flohmärkten wie noch vor zwanzig Jahren. Auch das führt zu einem rapiden Anstieg der Preise.
Im anbrechenden Zeitalter der digitalen Fotografie ist es noch aus einem anderen Grund kaum überraschend, dass der Markt einen Kult um "Vintage Prints" treibt, Abzüge also, die vom Fotografen zur Entstehungszeit des Negativs angefertigt wurden und demnach Originalcharakter haben. Denn die digitale Fotografie, die ohne Dunkelkammer, ohne Emulsionen, Entwickler und Fixierer auskommt, macht die einzigartige Materialität alter Aufnahmen, die Besonderheiten von Papier, Kontrastbildung, Körnung erst richtig sichtbar.
"Ein Kollodium-Druck wie das Seestück von Le Gray hat, ausser dass es sich ästhetisch um ein Kunstwerk handelt, eine ausgeprochen handwerkliche Dimension", erklärt der Fotograf Daniel Schwartz die enorme Aufwertung. "Heute aber gehen immer mehr Techniken der Entwicklung und Vergrösserung verloren. Nicht einmal die sogenannten Fachlabors wissen heute, was ein gutes Negativ ist." Für die Pionierzeit der Fotografie gilt dies sowieso. Damals gab es keine Profifotografen. Die Bilder wurden von Tüftlern und Privatgelehrten gemacht, die wie Alchimisten mit allen möglichen Substanzen experimentierten. Sie stellten Einzelstücke her, die als fotografiegeschichtliche Dokumente besondere Bedeutung haben.
Der Basler Sammler Peter Herzog führt noch einen anderen Grund für die Hausse an. "Historische Fotografien waren lange Zeit in ihrer Bedeutung verkannt und massiv unterbewertet. Nun wenden sich Sammler, die bisher das 20. Jahrhundert, Surrealismus und Bauhausoptik bevorzugten, Vorgängern wie Henry Fox Talbot, Hippolyte Bayard, Le Gray zu." Auch aus ästhetischer Sicht sei dies voll gerechtfertigt: "Es gibt historische Aufnahmen, deren Qualität jene der Surrealisten in jeder Hinsicht übertrifft."
Diese Umbewertung scheint sich derzeit an breiter Front durchzusetzen. Denn die Zahl der Kenner, die den Markt prägen, wächst. Doch hierzulande stecke, so Herzog, nicht nur der Markt, sondern auch die Berücksichtigung der Fotografie durch Institutionen, Museen und Universitäten noch in den Anfängen. Diese Meinung teilt auch Kaspar Fleischmann, der seit zwanzig Jahren die Zürcher Fotogalerie Zur Stockeregg führt. "In Europa wurde das Medium Fotografie seit jeher stiefmütterlich behandelt, weil es im Gegensatz zur Malerei zu wenig alt war. Anders als in den USA ist es bisher nicht einmal ins Ausbildungssystem integriert." Folglich mangele es an differenziertem Wissen. Seit dem Jubiläumsjahr 1989 wachse aber auch in Europa das Interesse stetig. Derlei schlägt sich in den Preisen nieder.
Doch selbst wenn es nun zu spät ist für den Erwerb von Le Grays Woge, sind die Grundlagen für eine fundierte Beschäftigung mit der Fotografie heute besser denn je. Das verdankt sich nicht ein paar edlen und seltenen Vintage Prints in Tresoren, sondern immer noch jener Errungenschaft, dank derer die Fotografie in diesem Jahrhundert eine so immense Wirkung entfalten konnte: der einfachen, kostengünstigen Reproduzierbarkeit auch jener fotografischen Bilder, die aus historischer Sicht Unikate sind.