Barbara Basting

Der frechste Maler seiner Zeit

Der Prado in Madrid widmet Jacopo Tintoretto die erste grosse Schau seit 70 Jahren. Sie ist ein Ereignis.


In diesem Sommer ist es endlich so weit: Der Erweiterungsbau des Prado in Madrid vom spanischen Architekten Rafael Moneo - der auch das neue Zürcher Kongresshaus bauen soll - wird fertig. Einsprachen, Komplikationen und eine Explosion der ursprünglichen Kosten von 50 auf über 113 Millionen Euro haben die ursprünglich für 2003 geplante Eröffnung immer wieder hinausgezögert.
Der erweiterte Prado gehört zur in den letzten Jahren neu konzipierten Kunstmeile Paseo del Arte vom Bahnhof Atocha bis zur Plaza de Cibeles. Gegenüber von Atocha findet sich das Centro Reina Sofia, das nationale Museum für Gegenwartskunst, mit Anbau von Jean Nouvel; in der Nähe des Prado wird bald das neue Kunstforum der Fondacion La Caixa, ein(Um-)Bau von Herzog  & de Meuron, vollendet. Die hochkarätige Sammlung Thyssen-Bornemisza ein paar Schritte weiter hat schon 2004 ihren Anbau eröffnet.
Moneos Klinkerbau hinter dem klassizistischen Hauptgebäude des Prado rund um den Kreuzgang der Kirche San Jeronimo ist keine spektakuläre architektonische Aufspreizung. Das passt zum Prado, der trotz seiner einzigartigen Bestände, die 1997 bis 1999 auf überzeugende Weise neu geordnet wurden, ein angenehm intimes Museum geblieben ist. Seine Stärke liegt weniger im Enzyklopädischen als in der Geschlossenheit seiner Sammlung. In ihr spiegelt sich der Geschmack der einstigen spanischen Herrscher.
Velázquez, El Greco und Goya sieht man nirgendwo sonst auf der Welt so glanzvoll.
Auch von Jacopo Robusti, genannt Tintoretto (1519-1594), besitzt der Prado wichtige Werke. Dabei ist das Schaffen des «Färberchens» so unverrückbar wie das keines anderen Malers mit seiner Heimatstadt Venedig verbunden. An 53 Standorten findet man dort seine Gemälde. Sein Hauptwerk, der Bildzyklus für die Scuola di San Rocco, ist nicht transportabel.
 Dass nun der Prado mit einer Werkschau Tintorettos wirbt, der ersten seit 1937 in Venedig, mutet daher tollkühn an. Doch das Resultat ist derart überzeugend, dass manche Kritiken jetzt schon vom Kunstereignis der Saison schwärmen. Tatsächlich vermag die Schau zu zeigen, was sich in Venedig gar nicht so einfach erschliesst: wie dieser ehrgeizige Manierist im Spannungsfeld zwischen dem damals dominierenden Tizian, dem NeuererMichelangelo und dem Sinnesschmeichler Veronese seinen Platz suchte - und vor allem, wie er ihn fand. Er begeisterte schon seine Zeitgenossen durch kühnen Erfindungsgeist, durch ungewöhnliche Kompositionen, durch einen bravourösen Stil. Ein Zeitgenosse nannte ihn den «dreistesten Maler der Welt».
Als Regisseur dramatischer Bilderzählungen hat Tintoretto eine zuvor ungekannte, ja reisserische Dynamik in die Malerei gebracht. El Greco und Rubens etwa knüpften je auf ihre Weise daran an. Der impressionistisch aufgelöste Pinselstrich von Velázquez findet hier ein Vorbild.

 Von Jean-Paul Sartre geschätzt

 Warum Tintoretto in einem Kunstbetrieb, der seit Jahren in Altmeister-Blockbustern schwelgt, erst jetzt zum Zuge kommt, ist keine müssige Frage. Als «Schnellmaler» mit einem Œuvre, das - weil er oft Gesellen beteiligte - genauso viele Höhepunkte wie Niederungen kennt, hat er von Anfang die Kritik entzweit. Sein Naturalismus, seine unklassizistischeAllüre, seine Aufmüpfigkeit gegenüber den malerischen Normen seiner Zeit wurden ihm vorgeworfen. Sie sicherten ihm aber auch regelmässig Applaus. So hat ihn der Philosoph Jean-Paul Sartre zum Inbegriff eines Künstlers stilisiert, der sich erst durch die Unabhängigkeit von Auftrag-geberverhältnissen entfaltet habe.
 Sartre lag nur insofern falsch, als Tintoretto, der mittellos starb, sich nicht immer ganz freiwillig um Aufträge balgte, obwohl er nach Tizians Tod in Venedig als dessen Nachfolger galt. Tintoretto wendete unkonventionelle Methoden an, um zu reüssieren. So schaltete er Konkurrenten durch schieres Tempo aus: Beim Wettbewerb für die Scuola di San Rocco präsentierte er statt eines Entwurfs gleich das fertige Werk. Heute fasziniert aber noch etwas anderes an ihm: Neben seinem Interesse am menschlichen Körper in Bewegung ist es vor allem die geschickte Aneignung und Anverwandlung von Erfolgsrezepten der Konkurrenz, Sampling und Crossover avant la lettre.

 Gelungene und andere Experimente

 Die Madrider Schau kompensiert das Fehlen der venezianischen Hauptwerke durch die Schlüssigkeit und Dichte der Geschichte vom Werdegang des Künstlers. Diese erzählt sie mit rund vierzig Gemälden und einer klugen Auswahl von Zeichnungen, hauptsächlich Körperstudien. Die Kuratoren haben dabei Wert gelegt auf grösste Qualität und Vielfalt. Neben religiösen und mythologischen Szenen findet sich so auch ein beeindruckendes Defilee von Porträts. Ein weiterer Akzent liegt auf Scharnierstellen und Brüchen in Tintorettos Entwicklung.
So trifft man zu Beginn auf das Frühwerk «Bekehrung des Paulus». Eine konfus wirkende Konstruktion, in der Tintoretto bereits sein Rezept des Zitats von (respektive Ideenklaus bei) geschätzten Zeitgenossen - in diesem Fall Rafael,Pordenone, Tizian - anwendet. Allerdings gelingt es ihm noch nicht so recht, daraus eine überzeugende Form zu gewinnen;dafür wird seine Arbeitsweise sichtbar.
 Ein weiterer wichtiger Schritt ist Tintorettos Ablösung vom Vorbild Tizian (der ihn angeblich aus seiner Werkstatt geworfen haben soll) und die Aneignung vonMichelangelos Neuerungen. Michelangelo löste damals Diskussionen aus, ob - wie noch bei Tizian - das Kolorit, also die Farbgebung, oder der Disegno, die Zeichnung, für die Qualität eines Bildes entscheidend sei. Tintoretto hat, das zeigt sein «Hl. Augustin, der die Lahmen heilt», sogleich mit Michelangelos expressivem Zeichnungsstil experimentiert. Zunächst wirken seine Figuren dadurch leider fast so flach wie Abziehbildchen.
Die Schau zeigt aber auch andere, erfolgreichere Experimente Tintorettos mit didaktischer Klarheit. Beispielsweise, wie er zunehmend komplexe Räume konstruiert. Manche, etwa jener in «Susanna im Bade» oder die wie in einer Puppenstube aufeinander geschichteten Szenen in der «Anbetung der Hirten», entpuppen sich als Fantasmagorien, einzig erdacht, um möglichst viele Teilhandlungen gleichzeitig in einem Bild unterzubringen. Nur ja keine Langeweile aufkommen lassen, scheint die Devise Tintorettos. Tizian - im Prado mit zum Teil den gleichen Motiven zu sehen - wirkt daneben richtig bedächtig. Allerdings, wie ein direkter Vergleich der «Danaen» beider Maler zeigt, auch inniger.
Tintoretto sucht nämlich geradezumanisch den Effekt, den «Thrill», die«Action». Im «Raub der Helena» wird die Göttin abtransportiert wie eine kaputte Schaufensterpuppe. Auch sonst liebt er eine forcierte Komik. So lugt der Gott Mars, von Vulkan in flagranti bei Venusertappt und unters Bett entflohen, wie bei einer Posse darunter hervor. Im Vordergrund der grandiosen «Fusswaschung» zieht ein fauler Hund den Blick auf sich, und im Bildzentrum liegt ein Jünger wie ein Käfer auf dem Rücken, während einanderer ihm die Hosen abstreift. Dagegen spielt sich die biblische Haupthandlung - Jesus wäscht seinen Jüngern die Füsse - vorne rechts am Bildrand ab, wo man sie fast übersieht.

Ohne grosses Brimborium

Zu den kleinen Sensationen der Schau im Prado gehört dabei, dass das über fünf Meter breite Gemälde zum ersten Mal seit 400 Jahren wieder mit seinem nicht minder imposanten Gegenstück, Tintorettos «Abendmahl» aus der Kirche San Marcuola in Venedig, vereint ist. Zwei weitere Versionen des «Abendmahls» regen zum spannenden Vergleich von Tintorettos inszenatorischen Fähigkeiten an. Die sorgfältig und gelassen, ganz ohne das übliche Brimborium solcher Blockbuster präsentierte Schau erlaubt so in vielerlei Hinsicht eine bisher ungekannte Form der Auseinandersetzung mit Tintoretto. Sie rückt einen grandiosen Maler ins Rampenlicht, der womöglich gerade deshalb etwas vernachlässigt wurde, weil man ihn von Venedig her zu kennen schien.


Tages-Anzeiger, 2007-02-20; Seite 45