Barbara Basting

Die erste grosse Kulturmaschine Europas

Es gibt Institutionen, die Marksteine setzen. Manche tun dies sogar in der eigenen Biografie. Das Pariser  Centre Pompidou, das dreissig Jahre alt wird, gehört zu ihnen. Eine Liebeserklärung.


Das Centre Pompidou tauchte zum ersten Mal im Französischunterricht auf, bei seiner Eröffnung 1977.  Denn der Lehrer, jung, munter und enthusiastisch frankophil, brachte gerne Zeitungsartikel zur Landeskunde  mit. Keinem von uns war damals klar, was für eine mächtige Kultur-, ja Kultmaschine da von Präsident  Georges Pompidou angeworfen worden war.
Sofort sichtbar hingegen war die Eigenartigkeit des Baus mit seinen vor die Fassade gehängten  Versorgungsleitungen. Solche Architektur hatte man für eine Kulturinstitution noch nicht gesehen. Die  Epidemie der kulturellen Umnutzung alter Industriegebäude brach erst in den 80er-Jahren aus. Fielen die Namen der Architekten Renzo Piano und Richard Rogers? Keine Ahnung. Auch zeitgenössische Kunst war  kaum präsent im Gymnasiastenalltag. Die im Unterricht zu bestellenden Kunstdruckmappen des  Kultusministeriums bezogen bestenfalls die Pop Art mit ein; von den lebenden Künstlern geläufig war vor allem Beuys mit Filz, Fett und Skandalen. Immerhin, ein experimentierfreudiger Kunstlehrer liess uns zu  einem Jubelanlass der Schule eine Performance mit Klopapier ausführen, gesponsert (das Wort kam aber  nicht vor) vom ehemaligen Schüler Hans Klenk, Besitzer der Firma Hakle.

 Philippe Starck und Jackson Pollock

Durch den seinerzeit forcierten deutsch-französischen Schüleraustausch kam man mit etwas Glück nach  Paris. Zusammen mit dem unternehmungslustigen Stadtkind Anne durchstreifte ich 1982 erstmals die  Kapitale. Stolz führte sie mich zu den nigelnagelneuen Trendzonen Forum des Halles, dem Café Costes von  Designer Philippe Starck und vor allem zum «Bobur». Toll, wirklich, wie die Rolltreppen die Fassade entlang  nach oben führten, einen immer weiter über die Feuerschlucker und Gaukler unten auf der Plaza erhoben,  die dort heute noch Publikum anziehen. Die Stadtlandschaft erschien dafür erhaben und doch zum Greifen  nah. Im Museum sahen wir eine grosse Schau von Jackson Pollock, umwerfend für einen Teenager aus der  deutschen Provinz, obwohl der Künstler schon lange tot war. Woher die Faszination? Vielleicht, weil es so viele, zum Teil weit gereiste Bilder waren? Es war mein erster Blockbuster.
Richtig intensiv wurde das Verhältnis zum Beaubourg aber erst während eines Studienjahres in Paris. Das  mickrige Dachkämmerlein zwang zur Suche nach besseren Arbeitsplätzen. Die Bibliothek des Beaubourg  war der beste Ort: grosszügige Öffnungszeiten (bis zehn Uhr abends!) und, ungeheuerlich, aktuelle Freihandbestände. Sie machten einen unabhängig vom vorsintflutlichen Ausleihsystem der  parkettknarrenden Sorbonne-Bibliothek, die ohnehin von den brandheissen französischen Theoretikern, auf  die wir so scharf waren, noch nichts gehört, geschweige denn angekauft hatte.

 Prächtige Ablenkungsmöglichkeiten

  Dass auch diverse Randexistenzen, etwa Clochards in käsig riechenden Kleidern, die bequemen Sessel,  die wohlige Wärme und die Sanitärräume der Bibliothèque d’information publique (BIP) im Beaubourg zu  schätzen wussten, war ein anderes Kapitel. Auch musste man früh da sein, um einen Platz zu ergattern.  Dafür konnte man im Sprachlabor ausgefallene Sprachen selber lernen. Ganz zu schweigen von den  prächtigen Ablenkungsmöglichkeiten, wie der Buchhandlung im Foyer, einem Paradies zum Stöbern. Und  dank «Laisser-passer», einer Dauerkarte für gerade mal 100 Francs im Jahr, kam man gratis in alle  Ausstellungen hinein und fast gratis in die hauseigene Cinémathèque sowie in die Konzerte des Ircam, des  Studios für zeitgenössische Musik unter Leitung von Pierre Boulez.
 Was gab es übers Jahr nicht alles zu sehen und zu hören: grossartige Künstler-Retrospektiven, wie jene  von Willem De Kooning oder Wassily Kandinsky, den einzigartigen Kunst-Nachlass des Schriftstellers Michel  Leiris und seiner Frau Louise, die ständige Sammlung des Musée national d’art moderne, wenngleich in weit  bescheidenerem Rahmen präsentiert als heute. Welten erschlossen sich, Namen tauchten auf, von denen  man zuvor nie gehört hatte: in den Kabinettausstellungen zu Künstlern und Schriftstellern, in apart  programmierten Filmzyklen, in Uraufführungen in Anwesenheit der Komponisten, wie etwa Karlheinz  Stockhausen, dessen wallende weisse Kluft mindestens so unvergesslich war wie seine Musik, in Lesungen  von «Promis» und Podiumsdiskussionen. Wenn man damals in Paris irgendwo das Gefühl hatte, hier  «passiere» es, hier sei man am Puls der kulturellen Aktualität und ihrer Akteure, dann war es im Beaubourg.  Es war das Gegengift zur verschulten Universität, wo wir Stipendiaten öde Pflichtseminare uninspirierter  Dozenten absitzen mussten.

 Lyotard und die Immaterialität

 Eine der vielen bedeutenden Ausstellungen, die über all die Jahre hinweg im Beaubourg stattfanden,  bewegte im Frühjahr 1985 auch mein Gemüt: «Les Immatériaux», vom Philosophen Jean-François Lyotard  erdacht, der als Postmoderne-Papst lebhaft diskutiert wurde. Etwas Neues lag in der Luft; im Rückblick ist es klar erkennbar als die letzten Zuckungen des «alten» Westeuropa in den Jahren vor dem Mauerfall - und als  Beginn der digitalen Revolution. 
Die amöbenhafte Postmoderne, von der überall gefaselt wurde, wurde in den «Immatériaux» greifbar. In  Erinnerung geblieben sind mir vor allem die visionären, damals aber verstiegen wirkenden kollektiven Schreibexperimente - der PC war noch kein Allgemeingut - sowie ein Display mit synthetisch produzierten Duftstoffen. Und der superchic in eine Silberfolie eingeschweisste Katalog. Künstlernamen, Zusammenhänge? Fehlanzeige. Was würde ich geben, diese Ausstellung noch einmal, mit heutigem Blick und Wissen, sehen zu können!
Seither hat sich viel verändert in der Pariser Kulturlandschaft; der «Effet Beaubourg» hat das ganze  angrenzende Marais-Viertel mitgezogen, das noch in den 80er-Jahren recht unattraktiv war und inzwischen diverse Kulturinstitutionen beherbergt; die pompösen «Grands Projets» Mitterrands, die Cité des Sciences, Ieoh Ming Peis Grand Louvre und die neue Bibliothèque nationale waren weitere Meilensteine, neben denen Pompidous Bau als geradezu bescheidene präsidentielle Demonstration erscheint - die dafür umso visionärer war in der Konzeption.

 Anlaufstelle für Kunst und Kultur

 Denn trotz der markanten Zunahme der Kulturinstitutionen nicht nur in Paris ist das Beaubourg eine auch im internationalen Vergleich hervorragende Anlaufstelle für Kunst und Kultur geblieben. Nicht von ungefähr zählt der elektronische Besucherzählautomat gleich nach der ersten Rolltreppe, 1977 der letzte Schrei, inzwischen 5,3 Millionen Besucher jährlich. Dass die Institution just in dem Moment nach einer dringend nötigen zweijährigen Renovation im Jahr 2000 wieder eröffnet wurde, als die Verfasserin begann, regelmässig für diese Zeitung über Kunst zu berichten, war keine schlechte Fügung. Die spannende Neuhängung der Sammlung durch Werner Spies - wow: die Franzosen liessen einen Boche, also einen Deutschen ihre wichtigste Gegenwarts-Kunstsammlung arrangieren - war in der Folge ebenso ein Höhepunkt wie die fulminante Schau «Les Années Pop» oder jüngst die grossen Überblicksausstellungen zu Surrealismus und Dada. Aber auch die Experimentallinie der «Immatériaux» wurde fortgeführt, etwa mit «Sonic Process» oder, fulminant, «Sons et Lumières». Durch alle Wandlungen, über mehrere Direktionswechsel hinweg (brillanter Gründungsdirektor war der jüngst verstorbene Pontus Hultén) ist der ursprüngliche Gedanke des Beaubourg spürbar geblieben: ein Ort für die «création contemporaine», das zeitgenössische Kulturschaffen zu sein, ein Ort mit ganz verschiedenen Andockstellen. Ein sehr lebendiges Ungetüm. Ein Kultur-Moloch auch, gewiss. Aber ein sympathischer.



Tages-Anzeiger,
2007-01-29; Seite 41