Barbara Basting

Ästhetik des Widerstands

Seit dem 19. Jahrhundert kann man den modernen Roman als eine Gegen- oder Parallelgeschichtsschreibung interpretieren, als «Geschichte in Geschichten», um ein Diktum des Historikers Reinhart Koselleck zu zitieren. Ein besonders hervorragendes Beispiel, das zwar Kultstatus geniesst, aber dennoch unter der Abschiebehaft der seltenen Lektüre leidet, ist die «Ästhetik des Widerstands» (Suhrkamp-Verlag) von Peter Weiss (geboren 1916 in Berlin): drei Bände, erschienen 1975, 1978 und 1981, kurz vor Weiss' Tod 1982 in Stockholm, wohin er 1940 emigriert war. Opulente, manchmal auch bockige 1200 Seiten, auf denen der in den 60er-und 70er-Jahren viel beachtete Prosa- und Theaterautor («Abschied von den Eltern», «Marat/Sade») eine Art fiktiver Autobiografie entwirft.
Die «Ästhetik des Widerstands» - der Titel spielt spöttelnd mit der Erwartung einer philosophischen Abhandlung- setzt im Berlin nach der gescheiterten deutschen Revolution von November 1918 ein. Plastisch schildert Weiss den antifaschistischen Widerstandskampf der 20er- und 30er-Jahre, dann das traumatische Jahrhunderterlebnis vieler junger Revolutionäre, den Kampf im Spanischen Bürgerkrieg 1936/37; schliesslich das Leben im sozialistischen Untergrund im schwedischen Exil während des Zweiten Weltkriegs und die verzweifelten Versuche, in Berlin kurz vor dem Zusammenbruch des Dritten Reichs einen letzten Widerstand zu organisieren - mit tödlichem Ausgang für fast alle Beteiligten. Nahezu unerträglich die Darstellung der Hinrichtungen durch die Nazis.
Man kann diesen Roman als bestens recherchierte, fesselnde Geschichte der wohl folgenreichsten Utopie des 20. Jahrhunderts lesen. Aber mindestens ebenso wichtig ist eine weitere Ebene. Das Buch beginnt im Berliner Pergamonmuseum, vor der Schlachtendarstellung auf dem Fries des antiken Pergamonaltars - und es endet mit einem letzten Hinweis auf diesen Fries, «auf dem die Söhne und Töchter der Erde sich gegen die Gewalten erhoben, die ihnen immer wieder nehmen wollten, was sie sich erkämpft hatten». Der Pergamonaltar ist das erste in einer Reihe von Kunstwerken, die Weiss glanzvoll beschreibt. Doch nie geschieht dies nur um der Bravour willen. Weiss sucht in der Kunst hartnäckig die «Schmerzensspuren, die sich durch die Geschichte ziehen», um W. G. Sebald zu zitieren, einem Seelenverwandten von Weiss. Trotzig entreisst Weiss die künstlerischen Hervorbringungen den «Eingeweihten», die die Werke als ihr «Eigentum» betrachten oder die Deutungshoheit darüber beanspruchen. «Wollen wir uns der Kunst, der Literatur annehmen, so müssen wir sie gegen den Strich behandeln, das heisst, wir müssen alle Vorrechte, die damit verbunden sind, ausschalten und unsere eigenen Ansprüche in sie hineinlegen», heisst es programmatisch.
In der Tradition der Arbeiterbildung werden Kunst, Literatur, Kultur bei Weiss gut dialektisch als zivilisatorischer Sauerstoff angesichts der «Kloaken der Massenmedien», aber zugleich als Symptom für ungerechte Machtverhältnisse verstanden. Aus diesem Blickwinkel heraus werden neben dem Pergamonaltar in grandiosen Passagen Picassos «Guernica», das zentrale Historienbild des 20. Jahrhunderts, und vor allem Théodore Géricaults «Floss der Medusa» (Louvre), aber auch zahlreiche andere Werke so originell und geschichtsgesättigt interpretiert wie die «erste totalitäre Stadt» Angkor Wat. Als Weiss' Opus magnum vollständig vorlag, war der Staatssozialismus am Bröckeln. In den 90er-Jahren war dieser so in Misskredit geraten, dass der hoch differenzierte Roman, der trotz aller Skepsis und Desavouierung den Sozialismus als Gegenentwurf zum entfesselten Kapitalismus sieht, ins Hintertreffen geriet. Heute, im Kontext aktueller Globalisierungsdebatten, beeindruckt er durch seine grosse Ernsthaftigkeit, als Monument einer erschütternden, illusionslosen Analyse des Wechselspiels von Kultur und Politik.

Tages-Anzeiger, 31.01.2004; Seite 45