Barbara Basting

«Die Laboratoriumsjahre beginnen»

Hans Ulrich Obrist, der quirlige Ausstellungsmacher und international tätige Projekterfinder, hat das Interview für sich als Medium neu definiert.

Mit Hans Ulrich Obrist sprach Barbara Basting

Sie haben einen dicken Interviewband publiziert, in dem Ihre Gespräche mit jüngeren und älteren Künstlern, Architekten, Ausstellungsmachern, Wissenschaftlern, Literaten versammelt sind. Für wen machen Sie eigentlich diese Interviews?
Es sind zunächst Arbeitsgespräche. Wenn ich eine Ausstellung mache, gehe ich dabei immer von Gesprächen aus. Vorbild ist das unendliche Gespräch, von dem der französische Philosoph Maurice Blanchot spricht. Irgendwann wurden dann einzelne Gespräche veröffentlicht. Aber es gab nie einen Masterplan für ein Buch.

Sie haben schon als Gymnasiast mit diesen Gesprächen angefangen. Wie kam das?
Auslöser waren für mich die Gespräche von David Sylvester mit Francis Bacon und jenes von Pierre Cabanne mit Marcel Duchamp. Das waren für mich lange die wichtigsten Bücher, als Schüler und Student habe ich sie jahrelang mit mir herumgetragen - unglaubliche Dokumente. Irgendwann fiel mir auf, dass gerade solche Gespräche oft nicht aufgezeichnet werden, und ich dachte, das zu tun, sei wichtig. Es ging also zuerst um eine Dokumentation?
Ja. Aber für mich sind diese Leute im Buch nicht abgehakt und die Dialoge mit ihnen nicht abgeschlossen. Zweierlei halte ich im Zusammenhang mit Texten zur Kunst für sehr wichtig: Wenn man über Kunstgeschichte etwas erfahren will, sind neben den Künstlerinterviews auch die Künstlerschriften wichtig. Ich habe mich immer auch für Künstlerschriften interessiert und sie herausgegeben. Doch der Künstler als Auskunftgeber kann auch bestimmte Zugänge zu seinem Werk verstellen. Das ist die grosse Gefahr.
Es geht nicht um das eine absolute Gespräch, das alles abdeckt, sondern um die Entwicklung einer Art von Gemeinschaft. Die Arbeit der Kunstvermittlung besteht für mich auch darin, Leute miteinander in Verbindung zu bringen. Schon in diesem Band gibt es einige Gespräche zu dritt. Für den geplanten 2. und 3. Band sind mehr solche Dreiergespräche geplant.

Wie wählen Sie Ihre Interviewpartner aus?
Ein roter Faden ist die Transdisziplinarität. Es geht mir um den Brückenschlag zwischen den Disziplinen. In allen Bereichen herrscht die Angst, Wissen zu poolen. Ich versuche sie zu überwinden, indem ich systematisch Künstler und Wissenschaftler, Künstler und Architekten miteinander in Kontakt bringe. Oft kennen sich die Praktiker in verschiedenen Disziplinen, die miteinander zu tun haben, in derselben Stadt nicht. Da gibt es in Paris Künstler, die mit Sound oder Roboter arbeiten und gar nicht wissen, dass Luc Steels eines der wichtigsten Labors dafür führt. Der andere rote Faden ist mein grundsätzliches Interesse für radikalen Experimentalismus, für all die Experimente, die in den 60er-, 70er-Jahren stattgefunden haben und den Bogen zur Moderne des 20. Jahrhunderts schlagen. Die radikalen Experimente der Moderne des 20. Jahrhunderts sollten wir nicht vergessen. Sie sind wichtig für das 21. Jahrhundert. Deswegen spreche ich auch nicht nur mit Künstlern meiner Generation, sondern habe etwa die 100-jährige Schriftstellerin Nathalie Sarraute getroffen oder den 80-jährigen Billy Klüver.

Sie befragen auffällig viele Vermittler oder gar Erfinder von Institutionen, wie Pontus Hultén oder jüngst Cedric Price, den Erfinder des «Fun Palace».
Ja, denn das ist interessant, wenn man selber Ausstellungen macht. Es gibt wenig Literatur zu diesem Thema, das ich in den letzten Jahren systematisch verfolge. Der erste Band enthält nur wenige dieser Vermittlerinterviews, im zweiten Band wird es mehr davon geben. Die ganze Generation von Ausstellungsmachern wie Harald Szeemann, Johannes Cladders in Mönchengladbach, Franz Meyer in Basel, Kasper König, alle habe ich nach ihren wichtigen Ausstellungen befragt. Durch ihre Erfahrungen kann man die ganze Geschichte des Ausstellens im 20. Jahrhundert aus erster Hand mitbekommen, und es ist wohl der letzte Moment, in dem das möglich ist.

Also wieder Spurensicherung?
Genau, weil es eine Amnesie, einen Gedächtnisverlust gegenüber diesen radikalen Experimenten gibt. Dem versuche ich entgegenzuwirken. Es ist wichtig, von diesen Experimenten zu lernen. In den 70er- Jahren stellte das Museum of Modern Art in New York autoritär fest: «Die Laboratoriumsjahre sind vorbei». Dagegen ist meine gesamte Arbeit von der Überzeugung getragen, dass die Laboratoriumsjahre erst begonnen haben und dass wir andocken sollen an diese frühen Experimente.

In den letzten Jahren war oft zu hören, die Moderne sei tot, die Avantgarde eine gescheiterte Utopie. Sie aber setzen weiter auf die Kunst und ihr utopisches Potenzial?
Ja, auf jeden Fall. Und einige dieser Experimente sind weiterhin auch Toolboxes, Werkzeugkisten; ich denke an Billy Klüvers Versuch, mit Rauschenberg Kunst und Technologie zusammenzubringen. Oder an Pontus Hultén, der uns gezeigt hat, was es bedeutete, ein Museum zu leiten, bevor der Museumsdirektor zum Fundraiser wurde. Hultén sagt im Gespräch, er musste Los Angeles Mitte der Achtziger verlassen, weil seine Tätigkeit dort am Museum plötzlich nicht mehr die eines Museumsdirektors, sondern eines Fundraisers war. Fünfzehn Jahre später haben wir auf einmal in Europa dieselbe Situation. Die Museen in Europa werden mit ganz wenigen Ausnahmen nur noch von Fundraisern, Event- und Kulturmanagern betrieben. Deswegen ist die Rückschau wichtig, und deswegen ist sie auch sehr politisch gemeint.

Diese «Toolbox» soll durch die Gespräche allen zur Verfügung stehen. Ist dies das utopische Moment an Ihrer Arbeit?
Sicher, die Gespräche sollen etwas auslösen. Mir sagte Philippe Parreno einmal, er habe das Gespräch mit Richard Hamilton gelesen und noch am gleichen Tag sofort selber ein Buch machen müssen. Ich pflege aber keinen nostalgischen Umgang mit Erinnerung oder mit den 60er- und 70er-Jahren. Es geht immer darum, in welcher Weise die älteren Beispiele heute noch benutzbar sind.

Künstler sind aus Imagegründen stark an Kontrolle der Texte über sie interessiert. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Ich würde nie etwas veröffentlichen, was nicht gegengelesen ist. Es gibt dadurch auch Verzögerungen. Das ist kein Problem, denn das Projekt hat keine Deadline, sondern den Langzeit-Horizont einer Recherche. Die Frage der Wissensproduktion im Zusammenhang mit Ausstellungen halte ich für sehr wichtig. Meine Ausstellungen wie «Laboratorium», «Cities on the Move» oder neuerdings «Utopia Station» sind nicht einfach nur eine Ausstellung, sondern produzieren auch Wissen. Die Vorbereitungszeit für Ausstellungen wird heute immer kürzer, was meist auf Kosten der Recherche geht. Die Wissensproduktion verschwindet aus den Museen. Die Ausstellungshäuser werden nur noch zu einer Art von beschleunigtem Spektakellieferanten. Insofern geht es auch darum, Arbeitsmethoden zu erfinden, die dieser Entwicklung Widerstand entgegensetzen und trotzdem funktionieren. «Cities on the Move» haben wir während fünf Jahren recherchiert. Wir haben das Projekt als Wanderausstellung definiert, aber nicht wie heute üblich als Package, das von einer Institution geschnürt wird und dann rund um den Globus verkauft wird. Das ist das Gegenteil unseres Vorgehens. Uns geht es jeweils darum, eine Ausgangsrecherche zu definieren und bei jeder Station ein neues Fenster zu öffnen. Damit versuchen wir den Mechanismen der Homogenisierung und Globalisierung, die auch im Kunstbereich Einzug halten, Widerstand entgegenzusetzen.

Ihre Interviewpartner fragen Sie am Ende immer nach dem wichtigsten unvollendeten Projekt. Was ist denn Ihr wichtigstes unvollendetes Projekt?
Das einflussreichste Projekt für neue Museumsideen, das leider nie realisiert wurde, ist der «Fun-Palace», den Cedric Price 1960 zusammen mit John Littlewood entwickelt hat. Er sollte eine transdisziplinäre Institution werden. Rem Koolhaas zum Beispiel hat sich immer darauf bezogen, und das Centre Pompidou gäbe es nicht ohne diese Idee. Es geht heute, wo die Schnittstelle zwischen Kunst, Architektur, Musik und Literatur wieder viele Kunstschaffende beschäftigt, darum, eine entsprechende Institution oder wenigstens Plattform zu erfinden. Meine Arbeit besteht unter anderem darin, Skizzen und Fragmente zu einem solchen Projekt zusammenzutragen.
Hans Ulrich Obrist: Interviews, Hrsg. Michael Diers, Charta, Mailand 2003.
Layout. Hans Ulrich Obrist und Rem Koolhaas im Gespräch mit Philip Johnson; Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2002/2003.
Re:CP by Cedric Price, Hrsg. Hans Ulrich Obrist, Birkhäuser, Basel 2003.


ZUR PERSON
Hans Ulrich Obrist, geboren 1968 in Zürich, ist seit 2000 fest angestellt als Kurator am Musée d'art moderne de la ville de Paris. In den letzten zehn Jahren hat Obrist sich international einen Namen gemacht als freier Kurator von Ausstellungen und Projekten, die oft am Rand der bestehenden Institutionen stattfinden oder neue Orte und Medien erschliessen - seien es Zeitungsseiten («Museum in Progress»), Websites («Do it»-Projekt), Postkarten (im Rahmen des Projekts «Cities on the Move»), oder Poster («Utopia Station»). An der diesjährigen Biennale von Venedig hat Obrist zusammen mit Molly Nesbit und Rirkrit Tirvanija die erste Version der «Utopia Station» vorgestellt, eine Wanderausstellung, die in nächster Zeit als Work in Progress durch verschiedene Institutionen wandern wird. Obrists besondere Spezialität sind Interviews mit Künstlern, Architekten, Wissenschaftlern und Schriftstellern. Nun liegt ein erster Sammelband dieser Gespräche vor. «Utopia Station» ist derzeit zu Gast in Sindelfingen bei Stuttgart, weitere Stationen sind Buenos Aires, Neapel und München. (bas)

Tages-Anzeiger, 28.11.2003; Seite 57