Barbara Basting

Ein kühler Maler des modernen Lebens

Das Frankfurter Museum für Moderne Kunst zeigt eine Werkschau von Jeff Wall. Mit Fotografien, die konstruiert sind wie Gemälde, hat er in den letzten beiden Jahrzehnten Massstäbe gesetzt.


Jean-Christophe Ammann, dem scheidenden Direktor des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt, kommt das Verdienst zu, dem kanadischen Künstler Jeff Wall 1984 in der Basler Kunsthalle die erste Einzelausstellung in Europa ausgerichtet zu haben. Der 1946 geborene Wall war zwar kein Geheimtipp mehr, die "documenta 7" 1982 hatte Arbeiten von ihm präsentiert. Aber es bedurfte eines besonderen Sensoriums, um schon damals in den Foto-Leuchtkästen mit ihren gestochen scharfen, lapidaren Alltagssujets die künstlerische Potenz auszumachen, die Wall seither mit grosser Sensibilität und konzeptueller Konsequenz entfaltet hat.
Dass Ammann nun seinen letzten "Szenenwechsel" in Frankfurt mit einer konzentrierten Werkschau zu Jeff Wall abrundet, die Rolf Lauter kuratiert hat, nimmt vor diesem Hintergrund den Charakter eines Bekenntnisses an. "Die Bedeutung von Jeff Wall ist mit jener von Andy Warhol vergleichbar: Kein Weg führt an ihnen vorbei", schreibt der Hausherr im Katalog zur Ausstellung, die 35 Werke des Künstlers von 1978 bis 2000 versammelt. Tatsächlich: Was Warhols Werk für die künstlerische Reflexion der Massen- und Werbeästhetik geleistet hat, tut Wall für die kritische Auseinandersetzung mit der ebenso massenwirksamen Fotografie im Spannungsverhältnis zwischen Dokumentation und subjektiver Darstellung, zwischen Abbildung von Realität und Evokation des Imaginären.

Orte des Phantasmagorischen
Walls frühe Entscheidung, sich das aus der Werbung bekannte Medium des grossformatigen Leuchtkastens anzueignen, muss im Rückblick als genialer Kunstgriff gewertet werden. Die Entwicklung und Rezeption der Fotografie bewegt sich seit ihren Anfängen in Absetzung und gleichzeitig enger Abhängigkeit von den Bildformeln und Kompositionsprinzipien, die das ältere Medium der Malerei ins kollektive Gedächtnis gebracht hat. Der Anblick eines Leuchtkastens mit einer üblicherweise zu Werbezwecken aufgenommenen Fotografie signalisiert, darin dem gemalten Bild durchaus ähnlich: Hier ist eine Szene komponiert und zum Zweck der Verführung des Betrachters wirkungsvoll inszeniert. Gleichzeitig trägt der dokumentarische Charakter der Fotografie dazu bei, die Wirklichkeitstreue und damit den Wahrheitsanspruch des Bildes zu behaupten.
Wall hat damit aber nicht Dokumente, sondern Bühnenbilder für Phantasmagorien geschaffen. Denn seine Grossdias, die - von einigen Ausnahmen abgesehen - auf den ersten Blick nichts Auffälliges haben, tatsächlich aber bis ins letzte Detail inszeniert und zum Teil digital manipuliert sind, unterbieten die von der Werbung produzierten Erwartungen, weil sie so unauffällig sind. Zugleich überbieten sie die Malerei durch ihr magisches Leuchten. Sie sind, das ist der frappierendste Befund beim Rundgang durch die geschickt konzipierte Schau, von diskreter und zugleich betörender Sinnlichkeit. Das gilt vor allem für die kleineren, stilllebenartigen Kompositionen, aber auch für die Landschaftsbilder. Dabei haben Walls Sujets so gar nichts mit dem glamourösen Surrogatcharakter der Werbung zu tun. Er zeigt vorzugsweise beklemmende, schmuddelige Räume, suburbane Zonen, entwurzelt wirkende Menschen. Umso erstaunlicher ist die auratische, elektrisierende Präsenz der Originale. Sie lässt sich, wie Malerei, auch mit einem exzellenten Druck nicht wirklich befriedigend reproduzieren.

Sedimentiertes Körpergedächtnis
Jeff Walls Bilder sind meist ausgesprochen leise. Dieser stillen Beiläufigkeit verdanken sie eine starke Sogwirkung, denn man beginnt der Stille systematisch zu misstrauen. Kleine, sonderbare Details nähren einen kriminalistischen Blick: vertrocknete Bohnen oder ein Tintenfisch auf einem wackeligen alten Tisch, brackiges statt frisches Putzwasser in einem Eimer, ein Sofa in einem Landschaftspanorama. Gleichzeitig verrät Walls Umgang mit solchen Elementen ein an altmeisterlicher Malerei geschultes Auge.
Ein Teil des Vergnügens, das ihre Betrachtung auslöst, rührt denn auch von jener Inszenierung des Stofflichen, der Texturen, Oberflächen und Lichtspiele, wie sie gute Malerei seit je auszeichnet. In Walls Vorliebe für skulptural arrangierte Tüten-Putzlumpen manifestiert sich aber auch sein Spass am Spiel mit dem Kippeffekt zwischen Trash und kostbarer Draperie.
Besonders offensichtlich wird dies in seinem aufwändig konstruierten Grossbild "The Flooded Grave" von 1998 bis 2000, das wie eine Halluzination wirkt. In einem ausgeschachteten Grab schwimmen rote Seesterne und Polypen, am Rand des Grabes aber liegt eine nass leuchtende, zerknüllte blaugrüne Plastikplane wie von Van Eyck gemalt. Sie bildet einen Kontrast zum körnigen Erdhaufen rechts vom Grab - und sie erinnert an eine malerische Tradition, die in unserem Blick auf Bilder immer mitschwingt. In "The Flooded Grave" wird allerdings auch die Gefahr eines Manierismus auf hohem Niveau sichtbar.
Faszinierend bleibt Walls raffinierter Umgang mit unaufdringlich, aber präzis gesetzten kunsthistorischen Anspielungen, der sich bis in die Komposition, bis in die Gestik und Mimik der Personen fortsetzt. Wall arbeitet mit Schauspielern, und er transponiert - von Manets "Bar aux Folies-Bergère" bis zu Duchamps "Nu descendant un escalier" - Posen in seine Aufnahmen, die uns von den Ikonen der europäischen Malerei her vertraut sind. Er lädt sie auf, indem er sie aktualisiert und damit zugleich auf ihre heutige Brauchbarkeit überprüft. Damit fördert er das in Bildern sedimentierte Körpergedächtnis der Menschheit zu Tage. Dabei ist Wall, der sich - in Anlehnung an Baudelaires berühmte Streitschrift - als "Maler des modernen Lebens" versteht, weit davon entfernt, das Gewöhnliche ästhetisch zu verklären. Im Gegenteil, seine Werke erzeugen eine Atmosphäre der Bedrohung, einer latenten Aggression, die stark mit ihrer oberflächlichen Glätte und Perfektion kontrastiert.
"The violence you see in my pictures is social violence", sagte der Künstler einmal. So erscheint der gut gekleidete Angestellte, der in einem schäbigen Zimmer, umgeben von den Attributen einer unbehausten Fassadenexistenz, seinen Schuh poliert, als williges Opfer eines Systems, in dem der Einzelne zum Funktionieren verdammt ist. Gleichzeitig dient seine Figur dazu, Erinnerungen und Projektionen beim Betrachter abzurufen. Jeff Walls Bilderbühnen verstricken uns in Geschichten, deren Elemente wir selber beisteuern. Wir befragen Bilder und tun damit nichts anderes, als unsere eigene "condition humaine" auszuloten.

Katalog: Jeff Wall, hg. Rolf Lauter, Prestel Verlag, München 2001, 87.- Fr.

Text erschienen in: Tages-Anzeiger Zürich, 2001-10-22; Seite 49