Barbara Basting

Schuld war ein einziger Muskel

Fantastischer Wahnsinn: Das Museum Ludwig in Köln zeigt in einer viel beachteten, aufwändigen Ausstellung erstmals den ganzen «Cremaster»-Zyklus von Matthew Barney.


«Und, wie ist die Ausstellung?», fragt die Frau hinterm Tresen der Cafeteria im Kölner Museum Ludwig den jungen Mann. «Ziemlich kaputter Typ», meint dieser. Gemeint ist der amerikanische Künstler Matthew Barney. Sein 1994 begonnener «Cremaster Cycle», fünf Filme unterschiedlicher Länge, Gesamtdauer 6 Stunden, 37 Minuten und 35 Sekunden, ist in Köln erstmals komplett zu sehen, zusammen mit den dazugehörigen Installationen, Filmrequisiten, Zeichnungen und Standbildern. Die Schau wurde schon im Vorfeld zu einem Hochamt der Kunst neben der Documenta XI stilisiert. In ihr «manifestiert sich der Anspruch, das Ouvre von Barney als eine der bedeutendsten Positionen der zeitgenössischen Kunst herauszustellen», schreibt die Presseabteilung des Museum Ludwig. Kunstfreunde, die auf sich halten, pilgern derzeit von Kassel direkt nach Köln.
Barneys 2002 abgeschlossener Film «Cremaster 3» (dreistündig), als letzter der fünfteiligen Serie produziert, ist zwar in New York in einer exklusiven Vorpremiere gezeigt worden. Aber das Guggenheim-Museum, neben dem Musée d'art moderne de la Ville de Paris und dem Museum Ludwig Koproduzent der aufwändigen Schau, musste diese aus finanziellen Gründen zunächst verschieben - obwohl eine zentrale Episode von «Cremaster 3» im Guggenheim-Schneckenhaus spielt und es zu einer Mischung aus Sportarena, Kletterparadies und Revue-Zirkus umfunktioniert wurde.

Macht der perversen Fantasie
«Ziemlich kaputter Typ», das Verdikt klingt krude, trifft aber den 1967 geborenen Barney als Erfinder und Chefdesigner eines polymorph perversen Kunstuniversums keineswegs unverschuldet. Die Guggenheim-Kuratorin Nancy Spector drückt die Irritation, die sein Werk hinterlässt, etwas kultivierter aus. Der Titel ihres zentralen Katalogbeitrags, der die süffige, komplizierte «Cremaster»-Welt auseinander dröselt, lautet: «Nur die perverse Fantasie kann uns noch retten.» Vor was, lässt sie im Ungefähren. Vielleicht vor der Pervertiertheit der so genannten Normalität, an die wir uns schon zu sehr gewöhnt haben, um sie überhaupt noch zu registrieren?
Es könnte allerdings auch umgekehrt passieren, dass sich männiglich vor den episch ausgebreiteten, auf ihre Weise sehr fesselnden ödipalen, analen, sadistischen, surrealistischen, jedenfalls tiefenpsychologisch gehaltvollen Schauer-, Lust- und Machtfantasien Barneys retten muss. Denn eins wird beim Eintauchen in die «Cremaster»-Welten klar: Der kaputte Typ Barney krallt sich mit seinen Bildern im Kopf fest; er kriecht durch die Hirnwindungen des Betrachters wie (in «Cremaster 4») der Initiations-Kandidat durch einen mit Vaseline geschmierten Riesendarm. Das muss man mal verdauen. Insofern hat Barneys omnipräsente Darm-Metaphorik auch eine auf den Betrachter gemünzte Dimension. Wenn es eine künstlerische Qualität ist, Bilder zu schaffen, die man so noch nicht gesehen hat, die aber doch etwas seltsam Vertrautes haben und die einen in ihrer mysteriösen Sogkraft nicht loslassen, erscheint der Amerikaner tatsächlich als ziemlich singuläre Erscheinung in der Gegenwartskunst. Auch sein Anspruch, sich der unterschiedlichsten künstlerischen Medien - vom Film über die Installation bis zur Skulptur - zu bemächtigen, sie zu einem monströsen Gesamtkunstwerk zu verschmelzen, kennt kaum seinesgleichen. Stichwort Gesamtkunstwerk: Nicht allein wegen der opernhaften Elemente und der zyklischen Struktur denkt man bei Barneys Werk unwillkürlich an Richard Wagner. Wie Wagner entwirft Barney ein verschlungenes, vermessenes ästhetisches System, in das viele Schlüssel zu passen scheinen. Doch keiner schliesst das Werk vollständig auf.

Das Prinzip «Cremaster»
Die Handlung der fünf «Cremaster»-Filme auf kurzem Raum nacherzählen zu wollen, ist illusorisch. Die Kurzzusammenfassungen, die zu den Filmen gereicht werden, machen diese um keinen Deut verständlicher. Vereinfachend gesagt, geht es Barney um Durchgangs- und Initiationsrituale. Dabei kommt er weitgehend ohne Dialoge aus, und die wenigen gesungenen Passagen werden in so geläufigen Sprachen wie Ungarisch oder Gälisch dargeboten. Die «Cremaster»-Welt baut nur auf vielschichtige Bilder und auf Jonathan Beplers ebenso verwirrende Filmmusik, der Kultpotenzial innewohnt und die deswegen auch gleich separat vermarktet wird.
Die «Cremaster»-Welt lebt überdies von ihren grossartigen Darstellern - darunter Ursula Andress (als Diva in «Cremaster 5»), Richard Serra (als Architekt und er selbst in «Cremaster 3»), Norman Mailer (als Entfesselungskünstler Houdini in «Cremaster 2»), die beinamputierte Paralympics-Sportlerin Aimée Mullins («Cremaster 3») sowie, in diversen Metamorphosen und vorzugsweise hochathletischen Rollen, Matthew Barney selber.
Der Zyklus lebt aber auch von den prächtigen Kulissen, symbolträchtigen Gebäuden und heroischen Landschaften. Da gibt es das mit blauem Kunstrasen ausgelegte amerikanische Stadion in Barneys Heimat Boise, Idaho, das New Yorker Chrysler-Building und Guggenheim-Museum, den grossen Salzsee samt Mormonentempel in Salt Lake City, das Columbia-Eisfeld in Kanada, das Gellért-Bad, die Kettenbrücke und die ungarische Staatsoper in Budapest, die Isle of Man, die erstarrten Basaltformationen des Giants Causeway in Nordirland.
Angelpunkt des Ganzen ist das «Cremaster»-Prinzip. Der ehemalige Medizinstudent Barney hat im Anatomieunterricht vom Cremaster-Muskel gehört. Dieser zieht die Hoden bei Kälte oder Angst nach oben und ist willentlich nicht beeinflussbar. Der Cremaster liefert das Grundschema von Auf- und Abstieg, die Idee der organischen Metamorphose, der geschlechtlichen Differenzierung sowie der Formprinzipien Verflüssigung und Erstarrung, die zum dominanten Strukturschema der Filme werden. Wenn etwa Barneys Lieblingsmaterial Vaseline in allen Aggregatzuständen von flüssig über zäh-matschig bis tiefgefroren in den Filmen wie auch bei den Skulpturen vorkommt, ist das die eine Form der Umsetzung; wenn diffuse Geschlechtszustände, vor allem hermaphroditische, faunische, satyrhafte Wesen zelebriert werden, eine andere.
Die grundlegenden Formprinzipien stammen, darin ist Barney modisch zeitgemäss, aus der Biologie. Aber er schöpft ebenso aus der keltischen Mythologie, dem Freimaurertum, der Mormonentheologie. Den Revuefilmen von Busby Berkeley hat Barney seinen Lieblings-Kameratrick mit dem Wechsel zwischen Nahsicht und Vogelperspektive abgeguckt, der Handlungen ins Ornamentale überführt; die Vorliebe für Paradeformationen fand auch bei Leni Riefenstahls «Olympia» ein gewichtiges Vorbild. Es gibt Slapstick-Einlagen und Einstellungen, die an Gemälde von Botticelli, Friedrich, Böcklin, Hopper erinnern. Die Bildwelt der zeitgenössischen Werbung schlachtet Barney nach Kräften aus, und seine skulpturale Fantasie nährt sich aus dem medizinischen Gerätepark der chirurgischen Bestecke, der Implantate und Prothesen sowie den beliebten Foltervorrichtungen der Fitnessstudios.
Hat man sämtliche «Cremaster»-Filme gesehen, ist klar, dass dieses Universum Deutungsversuche nur provoziert, um sie abprallen zu lassen. Man wird mit manieristischen Einfällen aller Art zugedröhnt, Ermüdung stellt sich ein. Warum, beginnt man sich zu fragen, soll man sich mit diesem durchgestylten, überinstrumentierten Privatkosmos näher befassen? Wozu die Auseinandersetzung mit diesem Amalgam des Demiurgen Barney, der hier dem vormodernen Mythos des Künstlers als «wunderbarem leuchtendem Brunnen» (Bruce Nauman) zu fröhlichen Urständ verhilft?

Triumph des künstlerischen Willens
Der Antwort kommt man näher, wenn man fragt, welche Bedürfnisse Barney befriedigt. Seine Filme haben - weitaus mehr als die Installationen und Skulpturen - nicht nur ihren unbestrittenen Reiz, sie wollen als titanische Produktionsleistung beeindrucken. Der Willenlosigkeit des Cremaster-Muskels setzt der zum Regisseur mutierte Künstler seinen radikalen Willen entgegen, sich ganze Heerscharen von Spezialisten dienstbar zu machen: Glasbläser, Schuhgestalter, Gesichtsplastiker, Digital-Effects-Designer, die superreiche Galeristin und die renommiertesten Museen. Mitwirkende an der «Cremaster»-Odyssee berichten im kiloschweren Katalog bewundernd von Barneys Energie, seine abgefahrenen Fantasien umzusetzen. Derlei kannte man bisher von Diktatoren und von Hollywood, aber weniger für die Kunst. Barneys Projekt, durch und durch ein Produkt der satten Neunzigerjahre, bezeichnet den Willen des Künstlers zur Machtergreifung. Das läuft parallel zum Willen des Kunstbetriebs, eine singuläre Künstlerfigur zu fördern, die nicht einfach Werke, sondern ein umwerfendes Gesamtenvironment liefert. Eine geordnete, bis ins kleinste Detail perfekte Welt, in der jedermann etwas findet und es allen die Sprache verschlägt. Von daher könnte es gut sein, dass das «Cremaster»-Modell in einer Zeit, in der Museen um Aufmerksamkeit heischen, eine grosse Zukunft hat.

Museum Ludwig, Köln, bis 1. September 02; Musée d'art moderne de la Ville de Paris, 10. Oktober bis 5. Januar 2003; Guggenheim, New York, 14. Februar bis 11. Mai 2003. Katalog Hatje-Cantz Verlag. Barneys Mitarbeiter schwärmen von seiner titanischen Produktionsenergie. Metamorphose à la Matthew Barney: Faunisches Fabelwesen aus «Cremaster 5».

Text erschienen in: Tages-Anzeiger, Zürich 2002-07-24; Seite 45