Barbara Basting

Und hinter tausend Köpfen keine Welt

Mit der Ausstellung "Johann Caspar Lavater: Das Antlitz - eine Obsession" blättert das Kunsthaus das wohl skurrilste Kapitel aus der langen Geschichte der Physiognomik auf.



Gerade rechtzeitig zur Lavater-Ausstellung im Zürcher Kunsthaus hat die deutsche CDU die Brisanz der Physiognomik vorgeführt. Ihr suggestives Plakat, das Bundeskanzler Schröder als <Rentenbetrüger> in der Art von Verbrecher-Fahndungsfotografien präsentierte, zog sie nach heftiger Kritik zurück. Ihm lag das Grundaxiom der Physiognomik zugrunde, wonach der Charakter einer Person ins Gesicht geschrieben ist. Nicht nur die für ihre Ruchlosigkeit bekannten Werber, auch die Ratgeberliteratur für Jobsuchende - <der erste Eindruck ist entscheidend> - beweisen pausenlos, dass die angewandte Vulgär-Physiognomik keineswegs so mausetot ist, wie gerne behauptet wird.

Die Physiognomik, deren Tradition bis in die Antike reicht, ist nur deswegen so untrennbar mit Lavaters Namen verbunden, weil er sie wie kein anderer zu seiner Leidenschaft machte. Schon seine Zeitgenossen spaltete er damit in zwei Lager. Die scharfe Demontage der Physiognomik durch Georg Christoph Lichtenberg ist berühmt. Hegel bezeichnete das Gesichtsleseverfahren als <bodenlos>, Kant als <lieblos>. Aber in ihrem offensichtlichen Aberwitz ist die <Ausspähungskunst des Inneren> (Kant) auch Teil der abendländischen Wissenschaftsgeschichte, die gerade die subjektiveren, intuitiveren Weltzugänge systematisch ausgrenzte und zur Parawissenschaft abstempelte. Dass sie damit nicht erledigt waren, gehört zum schwierigeren Erbe der europäischen Aufklärung.

Die Auseinandersetzung mit dem hyperaktiven Zürcher Pfarrer birgt, obwohl er in diesem Kontext kein Hauptakteur, sondern nur eine Nebenfigur ist, durchaus Zunder. Wenn also Johann Caspar Lavater, dessen Hinterlassenschaften in Zürich sich normalerweise in einem kleinen Grab vor St. Peter und auf fünfundzwanzig Regalmetern in der Zentralbibliothek befinden, den Bührle-Saal des Kunsthauses bezieht, würde man gerne Lunte riechen.

Solche Erwartungen werden enttäuscht. Polemik, Brisanz, Aktualitätsbezug müssen draussen bleiben. Die Ausstellungskuratoren erweisen sich als fleissige, artige Philologen, die darauf vertrauen, der Besucher werde mit dem durchaus suggestiven Sog der rund 450 Exponate, das Gros davon wahre Filmstrecken aus Zeichnungen, schon etwas anzufangen wissen. Im hintersten Teil wartet, als sei der Besucher durch das fortwährende Neigen des Hauptes vor Vitrinen nicht schon genügend gemartert, unbequemes Kirchengestühl auf Zuhörer für eine immerhin vielversprechende Vorlesungsreihe. Vielleicht öffnet sie das eine oder andere Fensterchen zur Gegenwart hin, das die Ausstellung so demonstrativ geschlossen hält.

Die umfangreiche Schau ist klar in drei Teile strukturiert; ein handlicher, sorgfältig gemachter Almanach ersetzt die Legenden. Der Besucher soll erst schauen, neugierig werden, dann lesen. Das ist angesichts der kleinteiligen Exponate eine gute, geradezu radikale Idee, die zum flotten Bilderzapping verführt.

Wer schlendert und schaut, sieht sich schon im ersten Teil von Köpfen umzingelt. Zunächst machen Lavaters Zeitgenossen aus dem weitläufigen Kreis seiner Verehrer und Weggefährten in mittelprächtigem Öl ihre Aufwartung. Im Zentrum wartet die Lavaterbüste aus Marmor von Dannecker. Will heissen: Lavater war im heutigen Jargon <gut vernetzt>. Die Predigten des manischen Briefeschreibers wurden in halb Europa verbreitet. Lavater war eine der Attraktionen der damaligen Zürcher Gelehrtenrepublik, die auch dank Bodmer und Breitinger vor beflissener Geistigkeit vibrierte.

Im zweiten Teil folgt im fesselnden Herzstück der Ausstellung das Défilé der Köpfe aus Lavaters umfangreichem, allerdings auch höchst eigenwilligen Kunstkabinett. Lavater trug mehr als 22.000 Zeichnungen und Druckgrafiken als Studienmaterial für sein Projekt der Erforschung und Vermessung des Menschen zwecks Ableitung des Charakters zusammen. Nicht wenige Blätter gab er selber in Auftrag. Daneben beschäftigte er ganze Heerscharen von Rahmenmachern mit der Herstellung von farbigen Passepartouts für die von ihm geschätzte <kabinettliche> Präsentation. Schliesslich kommentierte er die Blätter eigenhändig. Sie waren die Grundlage für seine breit rezipierte Publikation, die vier Bände der <Physiognomischen Fragmente>. Sogar physiognomische Kartensets für unterwegs gab es. Die Sammlung wurde nach seinem Tod 1801 verkauft und gelangte auf Umwegen in die österreichische Nationalbibliothek.

Erst vor wenigen Jahren wurde sie dort systematisch aufgearbeitet. In die vorzügliche Auswahl, die im Kunsthaus zu sehen ist, vertieft man sich gerne. Die Reihe der Christusköpfe - die Suche nach dem wahren Gesicht Christi als Idealmodell für den Menschen war Lavaters eigentlicher Forschungsantrieb - ist dabei ebenso amüsant wie jene mit verschiedenen Augentypen. Schnell wird aber auch die fundamentale Crux von Lavaters Vorgehen sichtbar: Er kommentierte letztlich nur Kunstwerke und war sich dessen auch bewusst, wenn er etwa zu einer Augendarstellung schreibt: <...etwas blöde gezeichnet, ein Auge, dem nicht Verstand fehlt.> Selten wird klarer, welch einen Quantensprung die Erfindung der Fotografie in der Geschichte der modernen Wahrnehmung ausgelöst hat.


Schliesslich wird Lavaters unmittelbares Fortwirken in einer Reihe von zeitgenössischen Porträts und Historiengemälden der Lavater-Verehrer von Johann Heinrich Füssli über William Blake bis Angelika Kauffmann demonstriert. Dies ist der attraktivste Teil der an künstlerischen Höhenflügen armen Schau; ein Ort zum Durchatmen. Denn wenn es in der Ausstellung tatsächlich darum gehen sollte, das <Antlitz einer Obsession> abzubilden, ist dies perfekt gelungen. Die letztlich beklemmende Mediokrität von Lavaters Welt, ihre wahnumflorte Enge teilt sich dem Besucher unerbittlich und vollumfänglich mit. Es ist zum Verzweifeln: Da sammelt einer Kunst, tut dies aber nur zwecks Klassifikation, ohne Blick für ästhetisch Qualität. Da tauchen die grossen Namen der Kunstgeschichte auf, aber alle nur in mässigen Kopien. Da kennt einer zwar die glänzendsten Geister seiner Zeit, hat aber nichts Besseres zu tun, als sie für sein abstruses Unternehmen einzuspannen.
Indem sich die Ausstellung dem Lavaterschen Kosmos so liebevoll anschmiegt, erschwert sie einen distanzierteren Blick, der nicht nur rekonstruiert und kontextualisiert, sondern auch mal kühn gegen den Strich bürstet. Vergeblich sehnt man sich nach einer weiträumigeren Einbettung etwa innerhalb der Geschichte der Physiognomik. Erst recht vermisst man Anregungen zu einer symptomatologischen Lektüre, wie sie beispielsweise Michael von Arburg in seinem hervorragenden Katalogbeitrag versucht. Von Arburg arbeitet detailliert Lavaters Lehre als <zeittypische Quasi-Theorie an der Schwelle zum modernen Wissenschaftsbetrieb> heraus und trifft damit den Punkt, von dem aus eine Auseinandersetzung mit Lavater wirklich ergiebig sein könnte.


Denn die eher bedenklichen Ableitungen der Physiognomik sind zwar diskreditiert, und der im neunzehnten Jahrhundert <wissenschaftlich> begründete Rassismus speist sich aus zu unterschiedlichen Quellen, um allein dem eher naiven Moralisten Lavater angehängt zu werden; darin ist sich die Forschung inzwischen ziemlich einig.

Doch unsystematische und keinesfalls immer harmlose Restbestände der Physiognomik haben in unserer Kultur gute Karten. Denn die Anonymität und Komplexität der modernen Welt, der Verdacht, sie sei strukturell undurchschaubar, fördert den semiotischen Blick, der an der Oberfläche der Phänomene ansetzt und von daher mit dem physiognomischen Weltzugang verwandt ist. Nicht von ungefähr ist ein Philosoph wie Hans Blumenberg der Metapher von der <Lesbarkeit der Welt" nachgegangen. Dass in der zeitgenössischen Sozialbiologie - Stichwort Gentechnologie - der physiognomische Diskurs fröhliche Urständ feiert, belegt seine anhaltende Verführungskraft.

Die kreuzbrave historische Rekonstruktion eignet sich kaum, um solche ideengeschichtliche Bezugsraster, geschweige denn Brandherde herauszuarbeiten. So wird im Kunsthaus letztlich nur das bekannte Bild von Lavater als rührendem Fanatiker, magnetisierendem Vertreter einer Irrlehre und punktuell interessantem Kuriosum der Kulturgeschichte breitflächig ausdifferenziert.


Bis 22. April. Begleitpublikation "Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater": 98 Franken.