Barbara Basting

Die Eroberung des Archipel Video

Die "Kramlich Collection", die weltweit umfangreichste private Sammlung für Medienkunst, wird derzeit am Karlsruher ZKM gezeigt. Die einst ungeliebte Videokunst boomt auf dem amerikanischen Markt.



Der Titel der Ausstellung "Seeing Time" entbehrt nicht der Ironie: Exakt 654 Minuten und 39 Sekunden, knapp elf Stunden, müsste man aufwenden, wollte man nur jene Arbeiten aus der amerikanischen Kramlich Collection wenigestens einmal vollständig sehen, deren Länge exakt gemessen werden kann. Hinzu kommen noch Werke, die eine Endlosstruktur haben. Dabei wirkt die Ausstellung mit 35 Exponaten keineswegs übervoll.
Daß Videokunst einen massiven Angriff auf ihre Lebenszeit darstellt, ficht die Besucher solcher Ausstellungen aber kaum an. Sie flanieren durch sie ebenso zwanglos hindurch wie durch Gemäldegalerien, nehmen die vorgegebene Mindstbetrachtungsdauer kaum ernst. Ausstellungstaugliche Videos folgen daher ungeschriebenen Gesetzen: Sie müssen auf Anhieb so attraktiv oder rätselhaft wirken, dass der Flaneur sich in ihnen verhakt. Auch kleine Ausschnitte müssen einen starken Eindruck vermitteln. Die Präsentation wiederum muss vermeiden, dass der für Video typische Ablenkungssog - vielleicht läuft am Monitor nebenan was Spannenderes - entsteht.

Beide Voraussetzungen sind in Karlsruhe auf nahezu ideale Weise erfüllt. Seit der grossen Retrospektive Bill Violas in Frankfurt vor zwei Jahren hat wohl keine andere Videoausstellung so viel Raummagie entwickelt. Das aufwendige Rezept lautet: Die Technik verstecken oder mit teuren Apparaten inszenieren, Einbauten möglichst perfekt ausführen. Sind die Abstände zwischen den einzelnen Boxen gross, wirken diese wie geheimnisvolle Inseln eines Archipels.
Ein solcher Video-Erlebnispark peilt weniger den Intellekt als eine körperlich-intuitive Wahrnehmung an. Das ist bei vielen neueren Videos ohnehin die Tendenz. Sie knüpfen damit an Bruce Nauman, der mit der aufpeitschenden Installation "OKOKOK" vertreten ist: drei auf Monitoren rotierende Köpfe steigern sich in einen verbalen Okay-Rausch hinein.
Häufig wird mit Simultanprojektionen auf zwei oder mehr Wänden gearbeitet; eine Überforderungsstrategie, die dem Besucher systematisch in die Bildwelt hineinzieht. Exemplarisch dafür ist "Sustain" von Stephanie Smith und Edward Stewart, wo ein Mann von einer Frau während einer Stunde unter Wasser beatmet und parallel dazu ein Frauenkörper mit Bissen und Küssen bedeckt wird: sorgsam kalkulierte Qualen zum Mitleiden.
Auch "Deadpan" von Steve McQueen - eine Hauswand mit Fensterausschnitt stürzt immer wieder auf den Betrachter und einen vor diesem stehenden Mann zu, der aber gottlob durchs Fenster passt - lässt den Adrenalinspiegel steigen. "Anthropomorphe Expressivität" nennt der Pressetext derlei, und diese Formel erfasst denn auch die stärkste inhaltliche Linie der Ausstellung.

So bemerkenswert wie die Schau, in der neben Pionieren wie Vito Acconci, Marcel Broodthaers oder Dan Graham auch die mittlere und jüngste Videogeneration - Gary Hill, Dara Birnbaum, Stan Douglas, Matthew Barney, Mariko Mori etwa - gut vertreten ist, ist die Geschichte der "Kramlich Collection". Mit rund 145 Werken gilt sie als die weltweit grösste private Sammlung von Medienkunst. Bald wird sie in ein neues, von Jacques Herzog und Pierre de Meuron entworfenes Gebäude im kalifornischen Napa Valley einziehen. Die Kramlichs haben kapiert, dass Videokunst sich schlecht in ihre plüschige Villa einfügt und dass ein Museum heute gleich doppelt so attraktiv ist, wenn es eine prominente Signatur trägt.
Die Sammlung ist gerade mal sieben Jahre jung. Der gezeigte Ausschnitt lässt erkennen, dass sie weniger persönliche Vorlieben als einen Kanon abbildet und bei neueren Werken sogar mitprägt. Die Kramlichs verkörpern einen neuen Sammler-Typus, der höchst professionell vorgeht und Fehlgriffe scheut.
Pamela und Richard Kramlich wurden durch John Lane, dem 1994 verstorbenen Direktor des neuen Museum of Modern Art von San Francisco, zum Sammeln angeregt. Da Kalifornien vor Sammlern strotzt, galt es, eine geeignete Nische auszumachen. Denn die Kramlichs sammeln nicht nur für sich, sie wollen auch die Öffentlichkeit beglücken. Die von Direktor Lane empfohlenen "Thea Westreich Art Advisory Services", eine Art Consulting-Firma, die die Sammlung mit aufbaut, rieten zu Videokunst.
Das gefiel auch der MoMA-Direktion, die engste Kontakte zu Sammlern zeitgenössischer Kunst pflegt. Der Berliner Museumsdirektor Wilhelm von Bode hat solche Symbiosen vorexerziert, als er vor über hundert Jahren reichen Bürgern jene Werke zum Erwerb empfahl, die sich als Schenkung fürs Museum eignen würden. Bode allerdings propagierte die damals wenig beliebte Renaissance. Die Kramlichs hingegen greifen durch ihre Sammeltätigkeit aktiv in die Entwicklung einer Kunstrichtung ein.
Video stecke heute in den Kinderschuhen wie vor hundert Jahren die Fotografie, heisst es im Katalog. Das unterschlägt die wichtige Experimentierphase der 60er und 70er Jahre, die - gerade das belegt die Schau - heute von den jüngeren Künstlern im Grossformat ausgeschlachtet wird. Damals war es wirklich exotisch, armselige VHS-Kassetten zu sammeln. Die heutige Videokunst, die wesentlich attraktiver daherkommt, entwickelt sich in direkter Abhängigkeit vom derzeitigen Boom dieser Gattung auf dem amerikanischen Markt.
Dies unterscheidet sie auch von der Fotografie, die von ihrer langen Geschichte als Dokumentations- und Massenmedium geprägt ist und erst im vergangenen Jahrzehnt massiv unter Kunstverdacht geriet. An der Kramlich Collection lässt sich überdies ein im gegenwärtigen Kunstbetrieb charakteristisches Phänomen in exemplarischer Weise studieren: die rasante Verkürzung des Weges vom Atelier in die Privatsammlung und von da ins Museum.

Bis 22. April, http://www.zkm.de, Katalog (nur englisch) 65 DM.



barbara.basting@bluewin.ch