Barbara Basting

Die Kunst von ihren Grenzen her angehen

Interview mit Georges Didi-Huberman



Der 1953 geborene französische Kunstwissenschaftler Georges Didi-Huberman gehört mit seiner konstruktiven Kritik der traditionellen Kunstgeschichte derzeit zu den originellsten Vordenkern seines Faches. Didi-Huberman ist jedoch kein Methodenstürmer, vielmehr ein subtiler Denker, der mit präzisen Fragen die Schwachstellen und Defizite etablierter wissenschaftlicher Konzepte blosslegt. In einem per e-mail geführten Interview beantwortet er Fragen zur Methode und Geschichte einer <Disziplin>, die ihm in mancher Hinsicht zu diszipliniert ist. Vor allem von einer Wiederlektüre von Aby Warburgs Konzept der <Kulturwissenschaft> verspricht sich Didi-Huberman entscheidende Anstösse, um die beengenden, unproduktiven Grenzen des Faches zu sprengen. Didi-Huberman lehrt an der <Ecole des hautes études en sciences sociales> in Paris.



Tages-Anzeiger: In Ihrer jüngsten Studie <Devant le temps> (Minuit, Paris 2000) sprechen Sie von der Kunstgeschichte als <Disziplin>, als <Ordnung des Diskurses> im Sinne Foucaults. Ihr eigener Stil trägt dekonstruktivistische Züge. Ist es richtig, Ihre Untersuchungen im Kontext von Foucault und Derrida anzusiedeln, oder gibt es noch andere Bezüge, die für die Entwicklung Ihres methodenkritischen Denkens wichtig sind.

Georges Didi-Huberman:
Die Bezüge zu Foucault und Derrida - jedenfalls dem Derrida der 70er Jahre - liegen auf der Hand. Mein Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in Frankreich fiel in eine ausgesprochen fruchtbare Ära. Man müsste übrigens ebenso Deleuze und Lacan, Dumézil und Lévi-Strauss erwähnen.... Aber auch Denker, die sich schöpferisch und reflektierend intensiv mit Bildern auseinandergesetzt haben, wie Georges Bataille, Marcel Proust, oder, noch früher, Charles Baudelaire.
Das alles hört sich auf den ersten Blick sehr französisch an. Aber es gibt einen anderen, sehr wichtigen Aspekt, der mich zwar keine ablehnende, aber doch eine eher kritische Haltung gegenüber den Strukturalisten hat einnehmen lassen, die ich als Student aus nächster Nähe kennengelernt habe.
Die Strukturalisten haben sich in der Kunstgeschichte mit der von Erwin Panofsky übernommenen ikonologischen Methode begnügt. Das war nicht weiter erstaunlich, denn Panofsky analysierte die Bilder wie Zeichen einer Sprache. Meine ersten Untersuchungsgegenstände haben mir sofort die Mängel dieses Zugangs gezeigt. Deswegen habe ich andere Fixpunkte gesucht.
Ich habe sie bei Panofskys Vorgängern gefunden, im genuin deutschen Denken von Aby Warburg, Sigmund Freud, Walter Benjamin, aber auch bei Phänomenologen wie Erwin Straus oder Ludwig Binswanger.

TA: In der erwähnten Studie schreiben Sie, es gelte <die Selbstverständlichkeiten der Methode in Zweifel zu ziehen.> Aber gerade der Zweifel, der methodisch wird, läuft Gefahr, eine sehr beschränkte Methode zu werden. Wie weichen Sie diesem Problem aus?

GDH: Man muss zwei Bedeutungen des Wortes <Methode> voneinander unterscheiden. Es gibt eine <geschlossene Methode>, die sich allen Gegenständen mit dem selben Zugriff zu nähern versucht. Das führt dann häufig zu dem Eindruck, der untersuchte Gegenstand - dieses oder jenes Kunstwerk - diene nur noch dazu, eine Reihe von allgemein gültigen Gesetzen zu belegen.
Zu den <Selbstverständlichkeiten der Methode> zähle ich zum Beispiel die an sich nicht falsche, aber doch nur eingeschränkt gültige Tatsache, dass Bilder das Produkt einer bestimmten Epoche sind und sich als reiner <Reflex> der Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Geschichte verstehen lassen. Das ist das Credo der <Sozialgeschichte der Kunst>.
Dagegen versucht eine offene Methode, für die Ausnahmen empfänglich zu sein, für das Einzigartige, für die Abweichungen oder Dysfunktionen - all das, was ich <Symptome> nenne. Eine offene Methode geht vom jeweiligen Gegenstand und nicht von einer allgemeinen Situation aus. Aus der Ferne betrachtet, spiegeln die Kunstwerke sicher eine allgemeine Situation wieder. Schaut man jedoch näher hin, sind sie vor allem Abweichungen von dieser Situation. Genau dies macht sie faszinierend, aber auch gehaltvoll für die historische und theoretische Untersuchung. Die Schwierigkeit liegt darin, dass man auf beiden Ebenen ansetzen muss. Sie müssen in eine dialektische Beziehung zueinander gebracht werden.


TA: Ihre Untersuchungen umfassen die traditionelle Kunst, kritische wissenschaftsgeschichtliche (epistemologische) Studien zur Kunstgeschichtsschreibung und Analysen von Bildern, die am Rande der Kunst angesiedelt sind, wie die Fotografien, die Charcot für seine psychiatrischen Untersuchungen verwendet hat.
Was verbindet diese Forschungsgebiete miteinander?

GDH: Sie haben in dieser schon beunruhigenden Vielfalt mein Interesse für die zeitgenössische Kunst vergessen... Es fällt mir schwer, die Frage zu beantworten. Ich habe zunächst den Eindruck, dass ich mich von der Entdeckung von Gegenständen leiten lasse, die mich schlicht und einfach fesseln und sozusagen neue Fragen entstehen lassen. Zunächst ist es die Einzigartigkeit, die sich aufdrängt. Das Bindeglied zwischen meinen Untersuchungsgegenständen ist weder die Epoche, noch das gemeinsame Genre oder Thema. Eher ist es eine Art der Befragung, die immer wieder neu begonnen werden muss und in der es aufzuzeigen gilt, wie jedes starke Bild unsere generellen Ideen von Bildern und von der Darstellung als solcher grundlegend verändert.
Ausserdem fühle ich mich sinnlich und theoretisch von Grenzfällen oder marginalen Gegenständen angezogen. Der gemeinsame Nenner, der sich eines Tages aus meiner Arbeit ziehen lassen könnte, beträfe vielleicht die Grenzzustände der Darstellung: ein Maximum an Realismus (Wachsskulpturen) oder ein Maximum an Abstraktion (ein Bild von Barnett Newman).

TA: In <Devant le temps> schlagen Sie auch eine Lektüre des Projekts von Aby Warburg vor, der Bilder aus der Perspektive der <Kulturwissenschaft> studiert. Was genau interessiert Sie an diesem Zugang, und worin sehen Sie das Verhältnis zwischen <traditioneller> (universitärer) Kunstgeschichte und dem umfassenderen Projekt Warburgs?

GDH: In gewisser Weise ist das wieder eine Frage nach den Bezügen. Vor zehn Jahren habe ich eine lange Kritik von Panofskys Ikonologie publiziert (dt: Vor einem Bild, Hanser, München 2000). Ich wollte darauf hinzuweisen, dass Panofsky kein wirklicher <Gründervater> der Kunstgeschichte ist, wie man sie heute praktizieren oder wünschen könnte. Wer sonst kommt also in Frage? Nun, natürlich Warburg.
Es ist sonderbar, aber Warburgs Werk ist viel offener und gewagter, viel reicher an Möglichkeiten als jenes von Panofsky, und dies auf mehreren Ebenen. Ich erwähne nur jene, die sich direkt auf Ihre Frage beziehen lässt: Dort, wo Panofsky die Grenzen der traditionellen Kunstgeschichte nur erweitern wollte, wollte Warburg sie überschreiten, um sie niederzureissen und unwirksam zu machen. Die von Panofsky ererbte Disziplin ist immer noch ein akademisches Gebiet. Hingegen handelt die von Warburg erträumte Disziplin von Gegenständen und Problemen, die ganz entschieden übergreifender Natur sind: Um den Weg mancher Bilder zu verstehen - auch jener, die dem Kunsthistoriker am vertrautesten sind, etwa Renaissanceporträts -, ist es nützlich und sogar notwendig, das Museum zu verlassen, auf die Strasse zu gehen, mindestens so sehr Anthropologe wie Historiker zu sein.

TA: Inwiefern ist dieses Projekt eine Alternative zu den <Visual Studies>, die derzeit in den angelsächsischen Ländern sehr im Trend liegen und auch die Kunstwissenschaft in Deutschland zunehmend beeinflussen?

GDH: Geht man auf Warburg zurück, knüpft man an genau jene philosophischen Ambitionen an, auf die die Kunstgeschichte, inklusive die des Warburg-Instituts, nach dem Zweiten Weltkrieg ziemlich schnell verzichtet hat. Die Kunstgeschichte hat nach ihrer Transplantation in den angelsächsischen Kontext all die Wörter - und folglich all die philosophischen Konzepte - vergessen, mit denen die Kulturwissenschaft Warburgs sie anfangs belebt hatte. Deswegen ist die <Rückkehr zu Warburg> voller Analogien zur <Rückkehr zu Freud>, die Lacan in der Psychoanalyse gefordert hat. So wie Lacan das Missverstehen der freudianischen Konzepte nach ihrer <Übersetzung> in den Kontext des <American way of life> kritisierte, können wir in der Kunstgeschichte ein ganz ähnliches Missverständnis der Konzepte Warburgs darin feststellen, wie die >Cultural Studies> derzeit praktiziert werden. Auf Warburg zurückzugehen, heisst, dem europäischen Denken der Vorkriegszeit - das zuerst vom Naziregime, dann durch Vergessen getötet wurde - seine analytische und kritische Kraft wiederzugeben.

TA: Welche Rolle wird die Kunstwissenschaft in einer von Bildern aller Art überfluteten Welt haben?

GDH: Eine analytische und kritische Rolle, soviel steht fest.

Fragen und Übersetzung: Barbara Basting
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Bibliografie: In deutscher Sprache ist von Georges Didi-Huberman u.a. greifbar:
- Vor einem Bild, Hanser, München 2000, Fr. 43,50
- Was wir sehen blickt uns an, München 1999, Fr. 44,30
- Erfindung der Hysterie, München 1997, Fr. 53,50
- Fra Angelico, München 1995, Fr. 90,00