Barbara Basting

Schätze auf Papier

Das Kunstmuseum Winterthur breitet seine graphische Sammlung aus



Wie kaum ein anderes Schweizer Museum verdankt das Kunstmuseum Winterthur seine bedeutenden Bestände der engen Symbiose zwischen privatem und öffentlichem Sammeln. Das 1916 eröffnete Haus ging aus einem 1848 gegründeten Kunstverein hervor. Wie in Deutschland trugen Künstler und kunstinteressierte Bürger Werke zusammen, die ihnen am Herzen lagen. Die Verbindung zu ambitiösen und betuchten Sammlern - namentlich Theodor Reinhart, Oskar Reinhart, Richard Bühler, dem Ehepaar Hahnloser - führte 1907 auch zur Gründung eines Graphischen Kabinettes.
Zwar wurde es 1927 wieder geschlossen. Doch ein schöner Grundstock für eine seither stetig angewachsene und im vergangenen Jahrzehnt von Direktor Dieter Schwarz planmässig erweiterte Sammlung von Arbeiten auf Papier war gelegt. Schwarz hat es trotz keineswegs exorbitanter Mittel verstanden, mit sorgfältigen monografischen Ausstellungen das Vertrauen von Sammlern, des eigenen Galerievereins wie auch bedeutender Künstler zu gewinnen. Anders wäre der Neuzugang etlicher Konvolute namentlich von Sonja Sekula, David Rabinowitch, Gerhard Richter, Thomas Schütte kaum denkbar gewesen. Zu den Glücksfällen gehört die private Schenkung des fast vollständigen druckgraphischen Werkes von Richard Hamilton.
Es darf als stolzes museums- und kulturpolitisches Plädoyer verstanden werden, wenn nun in einer umfangreichen Präsentation "Von Edgar Degas bis Gerhard Richter - Arbeiten auf Papier" erstmals ein Überblick über die Bestände gegeben wird. Zusammen mit jungen Kunsthistorikern wurde ein wissenschaftlicher Katalog erarbeitet, der die Sammlungsgeschichte bis ins Detail nachzeichnet. Sie bestätigt nicht nur den Rang des Hauses. Die Botschaft ist in einer Zeit, wo viele private Sammler sich nicht mehr ohne weiteres und selbstlos für traditionelle öffentliche Häuser engagieren, unmißverständlich: Die Idee des Museums lebt vom Gemeinwillen und von der Solidarität der Öffentlichkeit. In einer Zeit der Beliebigkeit lebt sie überdies von klugen und eigensinnigen Konzepten.
Die rund 260 gezeigten Arbeiten werden über dreizehn Räume des Museums verteilt zu stimmigen Werkgruppen gebündelt. Diese folgen dem Prinzip stilistischer und zeitlicher Nachbarschaften und werden, wo es sich aufdrängt, mit der Gemälde- und Skulpturensammlung verzahnt. Dadurch ebenso wie durch die rhythmisch fein austarierte, spannungsreiche Hängung bekommt die Präsentation Tiefenschärfe und wirkt kaum je monoton. Nur der erste Raum, das eigentliche graphische Kabinett des Museums, vermittelt eine etwas gruftige Stimmung. Dabei gehören Hans Arps "Papier déchirés", eine Schenkung der Jezler-Stiftung, und überhaupt die gezeigten Arbeiten der klassischen Moderne von Klee über van Doesburg bis Picasso, Ernst, Léger aus dem Vermächtnis von Clara und Emil Jezler zu den Glanzlichtern in diesem Zeitabschnitt.
Die in einem Nebenraum einander gegenübergestellten Zeichnungen von Ferdinand Hodler und René Auberjonois weisen auf einen wichtigen Schwerpunkt des Museums hin, das von diesen beiden wichtigen Schweizer Künstlern der Jahrhundertwende wie auch vom dritten im Bunde, Félix Vallotton, bedeutende Werkgruppen beherbergt. Überhaupt fällt beim Gang durch die Jahrzehnte der selektive, dafür aber umso leidenschaftlichere Einsatz für bestimmte Künstler auf. Darin spiegeln sich Vorlieben der maßgeblichen Sammler - etwa jene Theodor Reinharts für Karl Hofer, jene Oskar Reinharts für Hans von Marées oder Heinz Kellers, Museumsdirektor von 1935 bis 1972, für René Auberjonois.
Der subjektive Zugriff schlägt sich auch in der übrigen Auswahl der internationalen wie auch der Schweizer Künstler nieder, wie Beispiele vom expressionistischen Ignaz Epper über Otto Meyer-Amden und Adolf Dietrich bis hin zu Sonja Sekula oder dem 1965 geborenen Mario Sala belegen. Hingegen fehlen manche große Namen der Nachkriegszeit wie auch der sechziger und siebziger Jahre. Im Rückblick erscheint diese Phase ohnehin nicht als Blütezeit der Ankaufspolitik. Dass beispielsweise weder ein Dieter Roth noch ein Markus Raetz mit Werkgruppen vertreten sind, ist mehr als erstaunlich. Dieter Schwarz hat solche Scharten bewußt nicht ausgewetzt, sondern, da diese Künstler in anderen Häusern in der Schweiz gut vertreten sind, auf die sinnvolle Strategie der Komplementarität gesetzt. Sie erlaubt ihm, dem Haus jenes Profil zu geben, das ein Anspruch auf Repräsentativität nur verwischen würde.
Dieses Profil wird besonders sichtbar in den Räumen mit Arbeiten aus den letzten dreißig Jahren. Einen ersten Schwerpunkt bildet die Arte povera mit Arbeiten von Lucio Fontana, Mario und Marisa Merz, Jannis Kounellis, Piero Manzoni, Giovanni Paolini. Allerdings lassen sich die arg verspäteten Ankäufe dieser Künstler nur mit dem Anknüpfen an die italienische Linie des Hauses - Magnelli, Morandi, Vedova - begründen.
Auch die starke Präsenz amerikanischer Künstler aus dem Umkreis des Minimalismus ist als Ausziehen von Linien zu verstehen, die in der Sammlung mit kubistischer, konstruktivistischer und konkreter Kunst angelegt sind. Besonders fallen darüber hinaus die grossartigen Blätter von Philipp Guston und Eva Hesse auf. Die kohärenten Gruppen von Richard Artschwager, John Chamberlain, Roni Horn, David Rabinowitch oder Donald Judd hingegen gehören im weitesten Sinne zu den Bildhauerzeichnungen, einem weiteren wichtigen Akzent. Ein mit Skulpturen und neuesten Papierarbeiten von Thomas Schütte stimmig eingerichteter Raum demonstriert, daß es Schwarz um Verschränkungen geht, die verschiedene Aspekte eines Werkes erschließen.
In dieser Auswahl wie in den Werkgruppen deutscher Künstler - neben zahlreichen Arbeiten Gerhard Richters sind etwa Hanne Darboven, Isa Genzken, Reiner Ruthenbeck, Ulrich Rückriem, Andreas Slominski vertreten - offenbart sich die Vorliebe des Hausherrn für konzeptuelle, manchmal bis zur Sprödigkeit vergeistigte künstlerische Sprachen. Das mag ein wenig einseitig sein, doch der Qualität der Sammlung tut dies keinen Abbruch. Im Gegenteil: ihre unverkennbare Signatur macht sie modellhaft.

Barbara Basting

Bis 19. November, danach Tournee: Nationalgalerie Prag, Rupertinum Salzburg, Westfälisches Landesmuseum Münster, Neues Museum Nürnberg.
Katalog, hg. Dieter Schwarz, 432 Seiten, Richter Verlag, Ausstellungspreis 60 Franken.