Barbara Basting

Das Neue mit Erinnerung mischen

Das "Musée national d'art moderne" im Pariser Centre Georges Pompidou, eine Wunderkammer für das 21. Jahrhundert

Als 1977 das Pariser Centre Pompidou, auch Beaubourg genannt, eröffnet wurde, war nicht abzusehen, dass es zu einer der erfolgreichsten Kulturmaschinen des zwanzigsten Jahrhunderts werden würde. Mit legendären Ausstellungen wie der von Werner Spies konzipierten Schau "Paris-Berlin" 1978, François Lyotards Kultveranstaltung "Les Immatériaux" (1985), der umstrittenen Präsentation zeitgenössischer Weltkunst, "Les magiciens de la terre" (1989), stand das Haus bis zur Schliessung zwecks Sanierung 1998 immer wieder im Rampenlicht.
Eher im Schatten der Mammutausstellungen dämmerte trotz seiner immensen Schätze das "Musée national d'art moderne" (MNAM) vor sich hin. Dass es weltweit eine der grössten und wichtigsten Sammlungen der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts umfasst, merkte der Besucher kaum. Die Fläche war mit einer Etage im Bau von Piano/Rogers relativ bescheiden. Der Anschluss an die jüngste Gegenwart schien nie überzeugend. Dafür war das Museum noch in den Achtzigerjahren zumindest zeitweilig ein Ort der stillen Kontemplation.
Damit scheint es nun endgültig vorbei. Im Museum tummeln sich an einem gewöhnlichen Werktag Schulklassen, Gruppen, Einzelbesucher in grosser Zahl. "Wir haben jetzt viermal so viele Besucher am Tag wie vorher", nämlich sage und schreibe 8.000 Personen, freut sich Werner Spies im Gespräch mit dem "Tages-Anzeiger" am Erfolg, der auch der seine ist. Der 1937 geborene Spies, Professor für Kunstgeschichte an der Kunstakademie in Düsseldorf, übernahm im April 1997 die Leitung des "Musée national d'art moderne et Centre de création industrielle" mit dem Ziel, es von Grund auf neu zu planen und einzurichten. Der exzellente Kenner insbesondere der französischen Kunst- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, der sich mit Publikationen und Werkkatalogen zu Picasso und Max Ernst profiliert hat, schien für die Aufgabe prädestiniert. Nach getaner Arbeit räumt er demnächst seinen Platz für Alfred Pacquement.
Dem Museum stehen nun zwei volle Stockwerke zur Verfügung, rund 14.000 Quadratmeter. Der Besucher betritt es im vierten Stock und landet nach einem theatralischen Empfang durch das monumentale Räderwerk "Requiem für ein totes Blatt" von Jean Tinguely und den "Giant Ice Bag" von Claes Oldenburg mitten in der zeitgenössischen Kunst seit den 60er Jahren. Dem Beginn des Jahrhunderts, den Fauves, dem Kubismus bis hin zur Ecole de Paris und dem Informel hingegen schwebt er über eine Rolltreppe in den fünften Stock entgegen. Dem Besucher solle, so Spies, auf Anhieb klar werden, dass in diesem Museum die Geschichte der modernen Kunst nicht mehr von ihrem Anfang, sondern von einer aktuellen, zeitgenössischen Warte aus betrachtet wird.
Der chronologische Parcours durch die klassische Moderne bis hin zum Abstract Expressionism und zum Informel im oberen Geschoss ist mit sicherem Auge und Sinn für spannende Konfrontationen komponiert. Das Raumkonzept - an eine Grande Galerie schliessen sich rechts und links Räume an - erweist sich dafür als ideal. Der Dada-Spezialist Spies entfaltet entlang dieser Achse die verschiedenen Entwicklungslinien mit besonderem Akzent auf den Brüchen, die die Dadaisten und Surrealisten zur Methode erklärten. Ein Novum sind die in separaten Räumen und Seitengängen entfalteten kulturgeschichtlichen Querverbindungen zur Fotografie, zu Architektur, Design und Literatur. Im fünften Stock trifft man auch auf das geheime Herz des Museums, André Bretons Studienkabinett, das nun endlich gezeigt werden kann: eine fantastische Wunderkammer.
Eher heterogen mutet dagegen der untere Stock an. Zwar hält Spies auch hier über weite Strecken an der chronologischen Hängung fest. Doch die Vielfalt der koexistierenden Haltungen und Stile in der zeitgenössischen Kunst lässt diese Ordnung weniger klar hervortreten. Hinzu kommt, dass viele Einzelwerke - von Dubuffets "Jardin d'hiver" über Joseph Beuys' "Plight" bis zu Annette Messagers "Pensionnaires" und Douglas Gordons Videoinstallation ganze Räume beanspruchen und dadurch entsprechend dominant wirken. Die beiden sehr grossen Säle mit Design und Architekturmodellen unterbrechen das Defilee der Kunst und relativieren deren Anspruch als Hort des Schöpferischen. Einzelne spielerisch-experimentelle Gegenüberstellungen lösen stilistische Zuordnungen ab.
Dabei erlaubt Spies sich auch Ketzereien, etwa wenn er einen weiss gekachelten Wohncontainer von Jean-Pierre Raynaud mit einem in Filz gepackten Konzertflügel von Beuys zusammensperrt oder einen Fassadenausschnitt von Jean Nouvels Institut du Monde Arabe als "objet trouvé" neben Gemälde hängt. Dahinter steckt Kalkül: "Es soll sogar Aggressionen freisetzen - und tut's ja übrigens auch", meint Spies, der ein mit Kunst überfüttertes Publikum aus der Reserve locken will. Weil Provokationen sich abnutzen, schwebt ihm ein "Museum mit zwei Geschwindigkeiten" vor. Das heisst: im unteren, zeitgenössischen Teil ist alle paar Monate ein Szenewechsel geplant.
Eine kleine Provokation ist auch der kiloschwere Katalog, ein flexibel in Plastik gebundenes Daumenkino, das ausgeflippte Gegenstück zu den hervorragenden Begleittexten im Museum und auf Internet. Im Katalog werden in chronologischer Reihenfolge über fünfhundert Exponate vom Gemälde über den Künstlerbriefwechsel bis hin zu Videostills und Aufnahmen von Architekturmodellen aufgeblättert - auf Doppelseiten, ohne Rücksicht auf die Dimensionen, ohne Kommentar, mit knappsten Legenden. Die Botschaft ähnelt der des unteren Stockwerks: Die Kunst, ein grosser Bazar.
Es dürfe ruhig etwas "bordélique" wirken, bestätigt Spies den Eindruck. Im Wissen um die Unmöglichkeit, die zeitgenössische Kunst schon heute endgültig zu klassifizieren, hat er die untere Etage viel offener definiert hat als die obere: "Im oberen Stockwerk gilt ein beinahe kanonisierter Zeitbegriff; so sieht die Bilanz der Kunst der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts aus, wenn man sich einigermassen an die Meisterwerke hält. Im unteren Stockwerk drückt sich die Vorläufigkeit des Urteils stärker aus. Diese soll spürbar bleiben."
Auf die Frage, ob Museen heute noch durch entsprechende Präsentationen verbindliche Epochenstile installieren könnten, äussert der Kunsthistoriker Skepsis. Dabei könnte man etwa den monografischen Saal mit einer grossartigen Werkgruppe von Gerhard Richter durchaus als ästhetisches Manifest interpretieren. Spies sieht die einzige Möglichkeit im thematischen Zugriff, den er schon im oberen Stock für die klassische Moderne anklingen lässt. Dort empfängt den Besucher Picassos Skulptur "Seilspringendes Mädchen", während er rechts im Augenwinkel Henri Rousseaus Gemälde "Der Krieg", auf dem ebenfalls ein Kind zu sehen ist, als Emblem des zwanzigsten Jahrhunderts wahrnimmt. "Heute eingangs darauf hinzuweisen, dass es im zwanzigsten Jahrhundert auch viele Themen gibt, ist der neue Blick auf Kunst."
Das MNAM soll laut Jean-Jacques Aillagon, dem Präsidenten des Centre Pompidou, ein "Museum in Bewegung, ein lebendiges Museum" sein. Zu den zukunftsweisenden Entscheiden von Werner Spies gehört es, die Kunst in ihrem Umfeld - Design, Fotografie, Architektur, Literatur - zu zeigen. Das Museum wird damit der zunehmenden Durchlässigkeit der verschiedenen künstlerischen Sparten gerecht. Die Integration der bedeutenden Videothek des Centre ins Museum ist ein programmatischer Schritt.
Die Neuausrichtung des MNAM, die stärkere Präsenz der aktuellen Produktion wird einschneidende kulturpolitische Folgen haben. "Vorher hat man hier die klassische Moderne studiert, die Fronde der junge Künstler versammelte sich bei Suzanne Pagé im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris. Es war wichtiger, dort gezeigt zu werden als hier. Das wird sich nun ändern." Dass Museen weiterhin eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft spielen dürften, scheint dabei für Spies festzustehen: "Solange es uns daran liegt, ein gewisses Leben zu führen, ein gewisses Fühlen zu kultivieren, ist das Museum mit seiner sinnlichen Präsenz einfach notwendig. Je mehr die Menschheit sich ins Virtuelle zurückzieht, desto aussergewöhnlicher wird wohl auf Dauer die materielle Präsenz von solchen Institutionen." Doch dem kritischen Intellektuellen in ihm, dem es, wie er sagt, "recht wäre, wenn es noch ein paar Gewissheiten gäbe, wenn man durch Schauen noch etwas beweisen könnte", kommen auch Zweifel. "Vielleicht erscheinen uns Museen eines Tages so irreal wie die Pyramiden".
Werner Spies weiss zu gut um die Relativität musealer Ordnungsversuche. Am Ende lässt er daher den geleisteten Titanenakt gerne als Spiel erscheinen. Fast bescheiden erscheinen auch seine Ansprüche an das Museum: "Man hat das Gefühl, dass im Augenblick eine grosse Umwälzung stattfindet. Eine Revolution im Verhalten, im Konsumieren, im Kommunizieren, in jeder Hinsicht. Man weiss nicht, wohin das führen wird. Es ist wichtig, ein bisschen zu retardieren, das Neue mit Erinnerung zu mischen. Wenn das Museum dies kann, erfüllt es seinen Auftrag."

Informationen, Öffnungszeiten, virtueller Museumsbesuch unter www.cnac-gp.fr
Katalog 260 FF.
Von Werner Spies zuletzt erschienen: "Kunstgeschichten", Von Bildern und Künstlern im 20. Jahrhundert, 2 Bände, Du Mont, Köln 1998.