Barbara Basting

Im Land des aufgehenden Bildersturms
Daido Moriyama im Fotomuseum Winterthur. Bis 26. März.

Eine junge Frau rennt zwischen schlaglichtartig beleuchteten Lattenverschlägen wie aufgescheuchtes Wild vom Betrachter weg ins Dunkel. Sie trägt nur ein kurzes weisses Unterkleid, keinen Slip, ist barfuss, obwohl der Boden von Unrat bedeckt ist. Ihr Kopf verschwindet im Dunkel. Der Aufnahmewinkel ist schräg, das Bild ist in Hast entstanden. Die Schwarzweissfotografie trägt unverkennbar die Handschrift des 1938 bei Osaka geborenen japanischen Fotografen Daido Moriyama. Wie viele seiner Aufnahmen erscheint sie als mysteriöse Trophäe des Fotografen als umherstreunendem Hund, als "stray dog", den Moriyama auch fotografiert hat und mit dem er sich gerne vergleicht. Der Titel seines wohl wichtigsten Buches, "A Hunter" (1971), formuliert explizit sein Selbstverständnis als Bildjäger. In diesem Buch findet sich die erwähnte Aufnahme. Sie entstand 1970 in Yokosuda, der amerikanischen Militärbasis, die im Vietnamkrieg eine wichtige Rolle spielen sollte - und verweist damit auf ein zentrales Thema des Fotografen, nämlich die sukzessive Amerikanisierung Japans in den Sechziger- und Siebzigerjahren und die Zerreissproben, die das für eine traditionalistische Gesellschaft bedeutete.
Daido Moriyamas fulminantes, aufwühlendes Werk, in Japan hoch geschätzt, wird nun im Fotomuseum Winterthur zum ersten Mal in Europa in einer breit angelegten Retrospektive gezeigt. Sie wurde vom San Francisco Museum of Modern Art konzipiert. Moriyamas Rezeption im Westen - sie begann 1974 in einer Gruppenausstellung am New Yorker MOMA setzte sich an der Biennale von Venedig 1979 fort und konzentrierte sich dann auf die angelsächsischen Länder - ist bezeichnend für das späte westliche Interesse an der fotografischen Eigenwahrnehmung der asiatischen Länder. Weil sie zum Standardrepertoire europäischer und amerikanischer Reporter gehörten, wähnte man sich mit Bildern gut versorgt. Vor allem Japan galt als Inbegriff einer genuin andersartigen, umso reizvolleren Kultur. Fasziniert und neugierig näherte man sich von aussen, liess sich von der exotischen Ästhetik in Bann schlagen. Die Beispiele reichen von Werner Bischofs international beachtetem Fotoband "Japan" (1954) über Roland Barthes' Bildessai "L'Empire des Signes"(1970) bis zu Wim Wenders Film "Tokyo Ga".
Moriyamas Fotografien, jene vor allem aus den sechziger und siebziger Jahren, lassen alle ästhetizistisch geprägten Annäherungsversuche als klischiert erscheinen. Von seinem wichtigsten Vorbild William Klein, dessen berühmtes Fotobuch "New York" (1956) den angehenden Fotografen begeisterte, hat Moriyama den beinahe filmisch direkten Zugriff übernommen. Er komponiert keine Ikonen, sucht nicht Motive, sondern geht aktionistisch vor, fotografiert gleichsam aus der Hüfte heraus, als wolle er der eigenen Intention ein Schnippchen schlagen. In ihrer emotionalen Dynamik, ihrer Unrast, ihrer Dramatisierung des Alltäglichen erinnern seine Bilder an Robert Frank. Sie sind grobkörnig, hart abgezogen. Ihre Lichtregie ist schroff expressionistisch. Eine suggestive, düster bedrohliche Stimmung dominiert. Moriyama fotografiert, anders als sein japanisches Vorbild, der nur wenige Jahre ältere Shomei Tomatsu, nicht im Bewusstsein, gültige Zeitdokumente zu schaffen. Seine Fotografie ist hochgradig selbstreflexiv. Systematisch sprengt sie die Grenzen des Mediums.
Schon in seiner ersten Buchpublikation, "Japan - Ein Fototheater" (1967) formuliert er mit seinen wichtigsten Themen auch eine eigene Ästhetik. Die Faszination durch Underground-Schauspieler, Randexistenzen, pathetische Tragöden im Off der Gesellschaft enthält im Kern die Absage an alles Verfeinerte, Stilisierte, Geschniegelte. Der Zusammenprall zweier Kulturen wird zum Kompositionsprinzip erhoben: die amerikanische Zigarettenpackung neben dem traditionellen Hanafuda-Kartenspiel, die westlichen Porträts im Schaufenster eines japanischen Fotografen, die amerikanische Flagge neben einem japanischen Plakat zeigen die sukzessive Legierung. Die aus dem fahrenden Auto heraus aufgenommenen Highway-Fotografien zeugen von einer latenten Modernisierungs-Euphorie, die Moriyama mit traumwandlerischer Intuition festhält.
Noch ein anderer Bildtypus taucht früh auf, Aufnahmen von Filmszenen - vor allem aus dem Gangsterstreifen "Bonnie and Clyde" - oder von Pressefotografien, besonders von Unfällen. Anders als Warhol, dessen Unfallserien er kannte, spielt Moriyama mit der archetypischen, abstrakten Qualität der Pressefotografie, bei der es gar nicht mehr um den wirklichen Unfall geht, sondern nur noch um die künstliche Erregung, die das Bild auslöst.
Moriyama entwickelte seine Bildsprache zwar in Auseinandersetzung mit amerikanischen Exponenten der Beat-Generation; "A Hunter" widmete er Jack Kerouac. Aber mindestens ebenso wichtig war für ihn der Kontakt mit der 1959 gegründeten Gruppe VIVO, an die der Einunzwanzigjährige 1961 Anschluss suchte. Zu ihren Mitgliedern gehörten die damals schon international profilierten, nur gerade zehn Jahre älteren Fotografen Shomei Tomatsu und Eikoh Hosoe. Der sozial und politisch engagierten Gruppe ging es darum, die Spannung zwischen dokumentarischem und künstlerischem Anspruch, subjektivem und objektivem Realismus radikal auszuloten. Obwohl sich die Gruppe schon 1961 wieder auflöste, prägte sie die neuere japanische Fotografie nachhaltig. Wichtig für Moriyama war auch die Begegnung 1964 mit dem gleichaltrigen Takuma Nakahira, der die einflussreiche linke Zeitschrift "Genai no me" (Das moderne Auge) herausgab und 1968 die Zeitschrift "Provoke" gründete, ein Forum für junge Autoren und Fotografen.
Moriyamas fieberhafte Produktion führte zwischen 1968 und 1976 zur Veröffentlichung von vier Fotobüchern. "Farewell Photography" (1972) heisst das radikalste. Ein Abschied, wie er endgültiger nicht sein könnte: beiläufig fotografierte Füsse in einer U-Bahn, die verkratzte Aufnahme einer Spiegelung auf einem Bildschirm, bis zur Unkenntlichkeit verschwommene Fotografien von Passanten. An diesem Endpunkt war die Krise nah. Erst 1982 holte Moriyama die Kamera wieder hervor. Die seitdem entstandenen Bilder sind meisterhaft, die Formate gross. Doch sie atmen nicht mehr das Lebensgefühl, das dem Frühwerk seine einzigartige Ausstrahlung verleiht. Es fehlt ihnen das Pathos der Desorientierung, die Auflehnung gegen alle Konventionen, die elegische Grundierung. "Ich war nicht gegen Amerika, gegen den Krieg oder gegen die Politik. Ich war 'against photography'", sagte der Fotograf 1998. Auch eine ästhetische Revolte lässt sich nicht wiederholen.

Barbara Basting

Fotomuseum Winterthur, bis 26. März.
Katalogbuch "Stray Dog" mit englischen Texten von Sandra S. Phillips, Alexandra Munroe und Daido Moriyama 59,- Franken in der Ausstellung.


(21. Mai bis 2. Juli im Folkwang Museum Essen