Barbara Basting

Schluss mit den Pavillons

Das Buch zum Schweizer Beitrag für die Architekturbiennale Venedig birgt Sprengstoff




Harm Lux, der Kurator des Schweizer Beitrags für die diesjährige Architekturbiennale in Venedig, hat einiges riskiert: Erstens hat er das Motto der Biennale, Architektur und Ethik, radikal ernst genommen. Zweitens hat er versucht, es auf die Biennale selber anzuwenden, weil sie ihm zufolge auf einer fragwürdigen "Selbstdarstellung der Nationen" fusst.
Doch schon die Umsetzung des ursprünglichen Konzepts - der Schweizer Pavillon sollte, in kecker Abwandlung bekannter Schweiz-Klischees, eine Insel der Seligen inmitten der Biennale werden, Ausläufer sollten sich in die Giardini hinein erstrecken - erwies sich aus absehbaren finanziellen wie administrativen Gründen als problematisch. Die realisierte Fassung wiederum stösst vor allem wegen rassistischer Parolen an den Innenwänden des Pavillons - die als Provokation gedacht waren - auf Kritik.
Nun könnte man sagen, ein Kurator, dem es nicht gelingt, seine unkonventionellen Ideen umzusetzen, habe seinen Job verfehlt. Doch gerade Kuratoren, die besonders innovativ sind, sehen ihre Aufgabe heute wie schon in den siebziger Jahren wieder häufiger darin, institutionelle Strukturen zu sprengen. Dass es Harm Lux um derlei ging, lässt sich seinem vom Bundesamt für Kultur herausgegebenen Begleitbuch zur Biennale entnehmen.
Darin sind neben den ursprünglichen Projekten der Künstler auch die philosophischen, soziologischen, urbanistischen Texte publiziert, die aus den Autos vor dem sinnbildlich verbarrikadierten Schweizer Pavillon zu hören sind. Ausserdem berichtet Lux von der Planungsphase in enger Zusammenarbeit mit den beteiligten Künstlern und Architekten.
Wäre dies bloss ein Rapport, hätte man auf den Abdruck getrost verzichten können. Doch das Buch ist mehr, nämlich das Protokoll der Entwicklung eines so märchenhaft-utopischen wie trotzigen Konzepts. Die Idee von Lux: "Statt alle durch die Biennale-Kommission formulierten Positionen zu berücksichtigen, fokussierte ich im ersten Konzept auf die Themen Migration und Integration. Ich ging von zwei Grundbedürfnissen aus, nämlich, dass einerseits jeder einen Ort braucht, wo er wohnen und sich wohlfühlen kann, und dass andererseits jeder ein Gegenüber braucht, um sich selbst definieren und entwickeln zu können."
Das Aufsprengen der Pavillon-Ästhetik war zentraler Teil des Konzepts: "Die Pavillons verkörpern vor allem die Macht und den Reichtum des Abendlandes. Man definiert sich durch Absonderung und Abgrenzung. Wer möchte noch für eine solche Kultur eintreten? Weg damit!", ruft Lux emphatisch. "Wie gehen wir damit um, dass in den nächsten zwanzig Jahren die winzige Minderheit der westeuropäischen Bevölkerung durch Millionen afrikanischer, asiatischer und osteuropäischer Immigranten bereichert wird?", fragt er in polemischer Absicht weiter. Solche Fragen bergen Zunder, da ihre Dringlichkeit sich kaum mehr wegreden lässt.
Die Textbeiträge von profilierten Autoren, keine leichte Kost, eher geistige Astronautennahrung, gehen auf genau diese hoch brisante Thematik des Erhalts und der Erosion von Grenzen ein. Sie bieten aktuelle Erörterungen zum Verhältnis von Kultur und Identität, Differenz und Assimilation, beackern jene Felder, die die naive Multikulti-Euphorie der späten Achtzigerjahre umgangen hat.
Dem geduldigen Leser vermitteln sie beispielsweise einen Einblick in laufende Debatten der politischen Philosophie. Die in Harvard lehrende Philosophin Seyla Benhabib skizziert eine auf dem Dialog basierende zeitgenössische Diskursethik, der Zürcher Philosoph Georg Kohler wartet mit weitreichenden Überlegungen zu einem "Ethos der Verständigung" auf, der deutsche Soziologe Heinz Bude liefert die brillante Analyse einer Gesellschaft, in der die Kultur zunehmend die Rolle der Arbeit als Integrationsfaktor übernimmt. Eines ist diesen Ansätzen gemeinsam: Den heutigen, stark erweiterten Kulturbegrif halten sie für so symptomatisch wie problematisch. Kultur ist nicht mehr einfach nur Literatur, Bild, Musik, sondern hat eine teilweise brisante ethnische Färbung angenommen.
Kultur wird demnach immer mehr zum Austragungsort von übergreifenden Diskussionen. Seyla Benhabib schwebt optimistisch ein "Gespräch über Generationen hinweg" vor. Der Philosoph Richard Rorty hingegen weist darauf hin, dass philosophische Versuche, heute noch Leitbilder zu formulieren, verlorene Liebesmüh sind. Was können Intellektuelle noch tun angesichts einer "globalen Überklasse, die alle ökonomischen Entscheide trifft, und dies völlig unabhängig von irgendwelchen Gesetzgebern oder Wahlbürgern?" Rorty rät pragmatisch: Nicht über die Globalisierung jammern, sondern für globale politische Institutionen kämpfen, die die Macht des mobilen Kapitals einschränken.
Mehr Bodenhaftung, mehr Nähe zum Alltag der Assimilation hat der Beitrag der in Zürich lebenden Psychologin Heikyöng Moser-Ha, die präzise den schwierigen Prozess der Anpassung von Immigranten beschreibt und damit allen Sonntagsreden die Flügel stutzt. Dass er - wie auch Rortys Artikel - nur auf Englisch abgedruckt ist, ist ärgerlich.
Den Bogen zur Architektur schlägt der an der ETH lehrende Architekt Marc M. Angélil, der unter anderem das neue Midfield Dock des Zürcher Flughafens mitentworfen hat. Angélil preist ein offenes, rhizomatisches Modell der Stadt an. Damit macht er die bereits etwas in die Jahre gekommenen Rhizom-Theorien von Gilles Deleuze und Félix Guattari für die urbanistische Diskussion fruchtbar. Vor der Komplexität der Wirklichkeit kapituliert der Architekt letztlich ebenso wie die Philosophen: feste Normen und starre Modelle werden von beiden diskret verabschiedet.
Zusammen mit den Bildbeiträgen von "relax" (Chiarenza/Hauser/Croptier), Markus Wetzel, MarCo Koeppel/Carlos Martinez, Bob Gramsma, Jörg Lenzlinger/Gerda Steiner und Christoph Büchel präsentiert sich das Ganze als reizvolle Wundertüte. Dabei bleiben einige Fragen: Dient die Kunst nur als Trägerrakete für die Theorie? Oder verhilft umgekehrt erst die Theorie der Kunst zu wahrer Bedeutung? Fraglich ist auch, ob der schicken Immigration der Theorie in den Kunstkontext tatsächlich eine Integration, eine gründliche Auseinandersetzung folgen kann. Eines macht die Vorgehensweise von Harm Lux jedenfalls klar: Die Kunst wird heute zunehmend als idealer Ort für experimentelle Kurzschlüsse zwischen den ansonsten eher geschlossenen Stromkreisen verschiedener Disziplinen entdeckt.

Dutyfree useme - Humanity Urban Planning Dignity - sneak preview, Kurator Harm Lux, hg. Bundesamt für Kultur, Niggli Verlag, Sulgen 2000.