Barbara Basting

Fleisch, Haut und Knochen

Auch das Musée de l'Elysée in Lausanne hat was zum Körperthema zu sagen



Längst wissen wir, wozu die Erfindung der Polaroidkamera gut war: Endlich konnten sich auch Laien der erotischen oder gar pornographischen Fotografie widmen, ohne ihre Erzeugnisse den schockierten Blicken von LaborantInnen aussetzen zu müssen. Heute übernehmen längst Homevideos und vor allem digitale Kameras die Pola-Porno-Funktion, für die Distribution gibt's das Internet. Es ist nach dem Video in diesem Jahrhundert das zweite Massenmedium, dem nicht zuletzt mit pornografischen Inhalten der Durchbruch in die Privathaushalte gelang.
Aber auch traditionellere Medien profitieren vom Amateurblick auf den nackten, vorzugsweise weiblichen Körper. Im benutzerfreundlich gegliederten Katalog der Internet-Buchhandlung Amazon heisst das erste Unterkapitel zum Stichwort Fotografie "Aktfotografie". Dort figurieren unter rund 80 aufgeführten Titeln keinesfalls an erster Stelle künstlerisch wertvolle Coffee-Table-Bände von Mapplethorpe oder Weston, sondern diverse Ratgeber zum Thema. Ob sie wegen der Ratschläge gekauft werden, sei dahingestellt.
Der Amazon-Katalog lügt nicht. Das bestätigt William Ewing, Direktor des Fotomuseums "Musée de l'Elysée" in Lausanne. Denn kein Monat vergehe, in dem nicht mehrere junge Fotografen vorstellig würden, um ihre Dossiers mit Aktfotografien ebenso junger Frauen präsentierten. Fast immer, klagt der leidgeprüfte Vermittler, seien die Bilder schrecklich stereotyp. Erst zögernd kämen auch Männerakte hinzu. Auch die Fotografinnen entwickelten zunehmend einen anderen Blick auf den eigenen oder fremden Körper.
Kein Wunder, gehört doch die Aktfotografie zu den kohärentesten Traditionen in der Fotografie dieses Jahrhunderts. Aber eine wirklich brisante Auseinandersetzung mit dem omnipräsenten und vor allem in der Werbung inflationären Thema des Körpers kann kaum in einem derart kodifizierten Bereich stattfinden. Viel eher ist sie dort zu beobachten, wo die Fotografie die Grenzen der Wahrnehmung verschiebt: in der medizinisch-technischen Fotografie, die von der Röntgenaufnahme über endoskopische Aufnahmen bis zur Nanofotografie in diesem Jahrhundert immer neue, spektakulärere und zugleich abstraktere Ansichten vom Körper geliefert hat, sowie in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Körperbildern. Beide untermauern die inzwischen bekannte, ursprünglich feministischeThese von der gesellschaftlichen Kodierung und Konstruktion des Körperbildes, differenzieren sie aus und tragen neue Lesarten bei.
Ewing, Experte für Körperfotografie, kann es auch nicht entgangen sein, dass Publikationen, wissenschaftliche Kolloquien, Kunst- und Fotografieausstellungen, die sich des Körperthemas in kritischer Absicht annehmen, seit geraumer Zeit Hochkonjunktur haben; er selber hat zu dieser mit dickleibigen Bildanthologien nach Kräften beigetragen. Sein Zugriff ist aber weniger kulinarisch als phänomenologisch orientiert, wie auch seine dreiteilige Ausstellung "Le siècle du corps" belegt.
In den schon gezeigten zwei Teilen hat sie die erwähnten Tendenzen der Körperfotografie bis zu den den achtziger Jahren sichtbar gemacht. Dabei fiel auf, dass Ewing nicht nur einen ethnographisch distanzierten Blick auf die Körperfotografie dieses Jahrhunderts warf, sondern auch einen ausgeprägten Sinn für die allmählichen, aber höchst signifikanten Akzentverschiebungen hat. Neben einigen der üblichen Verdächtigen, den bekannten und millionenfach reproduzierten Ikonen von Steichen über Cunningham und Man Ray bis Helmut Newton, berücksichtigte er gezielt auch weniger bekannte, oft krasse, aber gerade dadurch höchst symptomatische Körperdarstellungen. Ein Katalog von dreizehn Leitthemen, der von "Mikrokosmos" - mikroskopischen Abbildungen aus dem Inneren des Körpers " üder "Fleisch" (der nackte Körper als Gegenstück zum Akt) über "Ikonen" (der idealisierte Körper, Vorstellungen von Perfektion) bis zum "Schmerz" (der leidende Körper) reicht, untermauert sein Anliegen, das Panorama der verschiedenen Körperdarstellungen möglichst breit aufzufächern, haarscharf an der Beliebigkeit vorbei.
Der nun gezeigte dritte Teil wendet diesen Zugang auf Arbeiten der letzten zwanzig Jahre an. Zwar wirken der banale Titel des gesamten Unternehmens und die unerträglich pathetischen Untertitel - "Triomphe du fragment", "Triomphe de la forme", "Triomphe de la chair" hilflos. Auch die Frage, ob in jüngster Zeit tatsächlich ein Triumph des Fleisches oder nicht eher einer der Oberfläche zu vermelden wäre, drängt sich auf.
In Lausanne bekommt man wiederum eine eigensinnige Bilderzählung aus den üppigen Arsenalen von Kunst, Fotografie und sogar Video zu sehen. Dabei zollt die Integration des Videos mit Beispielen von Ana Axpe über Vanessa Beecroft bis Pipilotti Rist der Tatsache Tribut, dass wichtige Impulse zur zeitgenössischen Körperthematik von diesem Medium ausgehen, gerade weil es von ikonografischen Traditionen noch relativ unbelastet ist. Sie reflektiert auch den Hang der jüngeren Generation zum virtuosen Wechsel zwischen den Medien. Die ehemaligen Grenzen zwischen Fotografie und Kunst verfliessen ohnehin; sie werden ersetzt durch spezifische Produktions- und Rezeptionskontexte. Aber auch zwischen Video und Fotografie werden die Grenzen immer durchlässiger. Die Digitalisierung verstärkt diese Entwicklung noch, weil sie es auf einfache Weise ermöglicht, Stills zu printen.
Das Verdienst der Schau liegt unter anderem darin, daß sie für solche Produktions- und Rezeptionskontexte sensibilisiert. So wird eine Zeitschriftenseite mit der jüngste Werbekampagne der "Médecins sans frontières" gezeigt. Der Anblick einer angenähten Zungenspitze soll den Betrachter schockieren. Verblüffend sind aber vor allem die Möglichkeiten der digitalen Manipulation, die mit der dokumentarischen Illusion der Fotografie arbeiten. Anzutreffen ist auch jene Röntgenaufnahme, die jüngst durch die Presse ging: illegal nach England einwandernde Chinesen, die in einem Lastwagen starben. Im Museumskontext wirkt diese nun wirklich dokumentarische Aufnahme der Zollbehörde verstörend abstrakt und ästhetisch.
Reflektierte Körperfotografie spielt mit voyeuristischen Erwartungen, kalkuliert sie mit ein, bricht sie. Sie reizt das identifikatorische Potential aus, das allen Körperbildern innewohnt. Exemplarisch dafür sind die bewegenden Schwarzweissfotografien des Arztes Miguel Ribeiro: der Rücken einer geschundenen Frau, der von einem Ausschlag monströs verunstaltete Körper eines Mannes. Diese Aufnahmen halten die unerträgliche Balance zwischen der Dokumentation und der Vorstellung von Schmerz und Leid. Sie rühren an das für die Mediengesellschaft typische Dilemma zwischen Neugierde und Mitgefühl.
Orlans fratzenhaftes, von zahlreichen Liftings verunstaltetes Gesicht wirkt in diesem Kontext noch abstossender als ohnehin. Es ist ein krasses, aufrüttelndes Dementi der heute mit großer Selbstverständlichkeit propagierten, sogenannten Schönheitschirugie. Gleichzeitig zeigt es, wie chirurgische und digitale Oberflächenoperation inzwischen verschwimmen. Welchen Bildern sollen wir noch trauen?
Komplementär zur Oberflächenkosmetik werden die Naturgesetze des Alterns immer häufiger zum Thema. Nicholas Nixon hat von 1975 bis 1999 vier Schwestern jedes Jahr einmal als Gruppe fotografiert. Vom Vergleich der Gesichter mag man sich kaum losreisen. Dagegen öffnen die Fotografien tiefgefrorerener Embryonen (1991-95) von Hans Danuser den Blick in eine Welt, wo der Körper blosses Material ist. Auf einer der gestochen scharfen Schwarzweissaufnahmen ist ein winziger Embryo inmitten von Eiswürfelchen zu entdecken, als handle es sich um die Zutat zu einem Cocktail. Selten wird der Zynismus der modernen Fortpflanzungstechnologie so erschreckend sichtbar wie in diesen nüchternen Dokumentaraufnahmen. Triumph? Nein, Niederlage des Fleisches.
Die Ausstellung stimmt, ähnlich wie der komplementär aufgebaute Katalog, nachdenklich, gerade weil die Bilder nicht auf einen Nenner zu bringen sind. Am ehesten noch zeugen sie von einer Obsession, von der unstillbaren Gier, etwas festzuhalten, das sich hartnäckig entzieht. Sie belegen einmal mehr die Körperfixierung der Gegenwart, hinter der massive Verunsicherungen und Verlustängste zu vermuten sind. Zumindest in dieser Hinsicht sind diese Körperbilder gar nicht so weit von den Traum- und Fetischbildern der Werbung entfernt. Nur die Vorzeichen sind anders.

Barbara Basting

Bis zum 14. Januar 2001.
Katalogbuch: Das Jahrhundert des Körpers, hg. William Ewing/. Deutsche Ausgabe bei Verlag E.A. Seemann, Leipzig, 247 S., 78 Franken.