Barbara Basting

Kuratorinnencollage mit Theorieverhau

"Hypermental" im Zürcher Kunsthaus bringt auch klare Köpfe schön durcheinander



Wie wirklich ist die Wirklichkeit, fragte der Psychologe Paul Watzlawick schon vor fünfundzwanzig Jahren. Das Verschwinden der sogenannten Wirklichkeit, ihr Aufgehen in den landläufigen Surrogaten der Konsum- und Mediengesellschaft, schliesslich ihre vermeintliche Auflösung im digitalen oder cybervirtuellen Nirvana hält Philosophen und Kulturtheoretiker aller Couleur seit den siebziger Jahren auf Trab. Watzlawicks brachiale Antwort, alle Realität sei letztlich nicht mehr als ein mentales Konstrukt, hat sich stillschweigend durchgesetzt.
Als sei dies nicht irritierend genug, präsentiert das Zürcher Kunsthaus nun eine Ausstellung mit dem so attraktiven wie verwegenen Titel "Hypermental". Denn was bitte, ist "hypermental", wenn nicht eine sprachliche Absurdität? Der Untertitel legt die aufgeputschte Nonsens-Semantik aus und verspricht, immerhin etwas konkreter, "Wahnhafte Wirklichkeit 1950 - 2000 von Salvador Dalí bis Jeff Koons". Aus dem Katalogtext der Kuratorin Bice Curiger kristallisiert sich schliesslich vor allem eines heraus: Hier wird sprachliche Kunstturnerei betrieben.
Dabei ist am Ende alles viel braver: "Die Ausstellung Hypermental zeigt Kunst, die sich auf die Wirklichkeit, auf die Lebensrealität bezieht. Eine Wirklichkeit, die im vergangenen Jahrhundert in materieller (Naturwissenschaft) wie in ideeller (Psychologie) Hinsicht unaufhaltsam und potenziert durchlässig geworden ist. So ist auch die Beziehung der Menschen zum Imaginären, Virtuellen, Mediatisierten und damit das Wahnhafte, die Mechanismen der Wahrnehmung, die Wirklichkeit vermehrt ins Bewußtsein gerückt." Es geht also um die künstlerische Reflexion von Welt- und Wirklichkeitsverhältnissen, wie sie erstmals für den Surrealismus zentral waren.
Glücklicherweise bietet die Schau ein an Überraschungen reiches, höchst anregendes und genußreiches visuelles Erlebnis. Sonst würde vielleicht schneller sichtbar, welch bizarre Wackelkonstruktion das pseudotheoretische Konzept ist, das dem Besucher etwa mit Kapitelüberschriften in didaktisierender Manier untergejubelt wird. Das Konstrukt dient vor allem dazu, statt stil- oder epochengeschichtlicher Gliederungen einen neuen, radikal subjektiven, damit aber auch völlig beliebigen Blick auf die neuere Kunstgeschichte zu legitimieren, der die "stereotyp gewordenen Vorführmechanismen" (Curiger) durchkreuzen und ersetzen soll. Dabei wird das bis zum Abwinken bekannte Rezept der Themenausstellung einmal mehr durch Curigers Privatmodell der intuitiven Kuratorinnencollage ersetzt. Im Katalog findet diese ihre Entsprechung in einer unübersichtlichen, objektivierend als Zeitungsschnipsel präsentierten Sammlung von Theorie-Pickles.
Soll man das prominent am Beginn der Schau plazierte, großformatige Gemälde "Rosa Schleife" (1996) von Jeff Koons als unbeabsichtige Metapher dafür deuten, daß man es im folgenden mit einer attraktiven Mogelpackung zu tun bekommt? Das bonbon- und goldfarben glitzernde Geschenkpaket wird von Salvador Dalís düsterem, von gemalten Offset-Rasterstrukturen gebildeten "Porträt meines toten Bruders" (1963) ebenso kontrastreich flankiert wie von Duane Hansons Skulptur einer klischierten "Hausfrau" (1969/70) mit Zigarette, Kaffeetasse, Trockenhaube, Zeitung und Lowell Nesbitts Triptychon "Atelierfenster I-III (Morgen, Mittag, Abend)" (1967) - bodenlange Vorhänge, in verschiedenen Lichtverhältnissen gemalt. Die vier Werke, deren ästhetische Sprache gegensätzlicher kaum sein könnte, führen leitmotivisch künstlerische Wahrnehmungsweisen vor.
Koons: Die Verführung durch das hyperrealistische, fast psychedelische Abbild. Hanson: Die Konfrontation mit der platten Realität. Nesbitt: Die theatralische Inszenierung derselben. Dalí: Die Reflexion auf medial vermittelte und gebrochene Darstellungsmodi. Angedeutet wird mit den Werken von Dalí, Hanson, Nesbitt aber auch, daß es Curiger um den Versuch einer Neubewertung zentraler Positionen der sechziger Jahre geht. Diese erscheinen nicht mehr wie gehabt als letzte Avantgarde, sondern als unausgeschöpftes Reservoir einer widerständigen Kunst.
Ob Sigmar Polkes "Großes Schimpftuch", Valie Exports berühmtes "Tapp und Tastkino", Piero Manzonis "Socle du monde", Bruce Naumans Publikumsbeschimpfung "Get out of my mind", Allen Kaprows "Acitivity Models" oder Martha Roslers bissige Collagenserie "Bringing the War Home" und was der gezeigten Beispiele mehr sind: Das neue Interesse an dieser Kunst, das bevorzugt den politischeren, engagierteren Strömungen wie Arte Povera oder Fluxus gilt, versucht gerade an diese in den konsumfrohen 80er Jahren an den Rand gedrängten Potentiale wieder anzuknüpfen und, wichtiger noch, sie einer jüngeren Generation überhaupt erst zu zeigen. Aber die Revitalisierung durch Neuetikettierung macht vor allem klar, daß die einstigen Schocks sich nicht wiederholen lassen. So erscheint die Huldigung an den längst abgewanderten Geist der Utopie von gestern als arg sentimental.
Die Schau ist überdies eine Hommage an den "guten" Dalí, jenen, der mit Gemälden wie der "Madonna von Raphael mit Höchstgeschwindigkeit" die Veränderung des modernen Blicks durch den technischen Fortschritt reflektiert. In den inszenierten Leuchtkasten-Fotos von Jeff Wall, in den altmeisterlich gemalten Phantasmagorien eines Glenn Brown, selbst in den Werken von Mariko Mori oder Pipilotti Rist mag man Wahlverwandtschafen erkennen, mit einiger Anstrengung auch bei Bridget Riley oder Fred Tomaselli
Das atmosphärisch dichteste Kabinett in der als Boulevard mit Boutiquen angelegten Ausstellung ist jenes, das Marcel Duchamps Rrose Sélavy (lies: "Éros, c'est la vie") und seinen Erben gewidmet ist. Die Ikonen - das "Objet-Dard" etwa aus der Privatsammlung von Jasper Johns - liegen im Schrein, drumherum treten Meret Oppenheim und Louise Bourgeois, Robert Gober und Hans Bellmer, Eric Fischl und Sarah Lucas an. Matthew Barneys faszinierendes Video "Cremaster 1", Max Mohrs orthopädisch bestückte Tiefkühltruhe und Yayoi Kusamas rotglitzerndes Phallus-Boot bereichern das Arsenal für Erotomanen.
Was bleibt? Es bleibt der Eindruck einer Art idealisierter, heterogener Privatsammlung, die mit sicherem Blick für Qualität ausgewählt wurde. Es bleibt weiterhin die nun wirklich verstörende Einsicht, daß selbst die radikalsten Werke, etwa Douglas Gordons "30 Sekunden Text" zumindest in einem solchen Kontext kaum noch zu verstören vermögen. Und es bleibt Ratlosigkeit. Ist der Erlebnisspaziergang im Park der privaten Mythologien die letzte Schwundstufe des Ausstellungswesens? Belegt er, daß alle anderen Kategorisierungsversuche obsolet geworden sind, langweilig, harmlos, überflüssig? Einmal mehr drängt sich der Gedanke auf, das sich aus den "Ruinen der Repräsentation", von denen Peter Weibel jüngst sprach, keine wirklich brisante diagnostische Verbindlichkeit mehr destillieren läßt. Vermutlich werden wir noch mit einigen solcher Arrangements konfrontiert werden, bevor wir davon die Nase voll haben. Danach hat das wirklich Neue eine Chance.

Barbara Basting

Bis 21. Januar, vom 16. 2 bis 6.5. 2001 in der Hamburger Kunsthalle. Katalog 50 Franken.