Barbara Basting

Die Perfidie des Zeichners


Der Künstler Alex Hanimann schlägt eine Überforderungstherapie vor
Kunstmuseum Solothurn, bis 19.3.

"Wenn man eine Sache erkennt, kann man sie nicht unbedingt auch erklären", dieses Paradox, das aus Wittgensteins Spätwerk stammen könnte, liest man auf einer der mehreren hundert Zeichnungen aus den letzten zehn Jahren, die Alex Hanimann für seine grosse Einzelausstellung "Atom in Pakistan" im Kunstmuseum Solothurn ausgewählt hat. Die Blätter, meist normierte A3- und A4-Formate, liegen dicht an dicht unter Glas auf Tischen. Diese wiederum mäandern durch drei Säle und lassen so eine komplexe Partitur entstehen. Die Überforderung des Betrachters ist vorgesehen. Dessen Blick wird zum Vagabundieren und Umherschweifen fast genötigt. Dem perfiden Ablenkungsmanöver lässt sich kaum widerstehen.
Der 1955 in St. Gallen geborene Hanimann unternimmt seine kommunikations- und erkennniskritischen Recherchen, deren konzeptueller Anspruch unverkennbar ist, seit Jahren hauptsächlich im so ökonomischen wie anpassungsfähigen Medium der Zeichnung. Dabei steht die Frage nach den Strukturen der Wahrnehmung im Mittelpunkt seines Interesses. Systematisch und zugleich mit spielerischer Lust unterzieht er die Chiffrierungs- und Dechiffrierungsverfahren, mit denen wir uns Bilder wie Texte üblicherweise aneignen, der methodischen Prüfung. Er macht sich dabei zunutze, dass die Systeme des Verstehens weitaus störanfälliger sind als vermutet. Zwischen Wahrnehmung und routinierter Bedeutungszuweisung tut sich ein Niemandsland auf. Dieses unsichere, offene Terrain reizt Hanimann. Seine Arbeit könnte man als hochgradig selbstreflexiven Versuch der Inventarisierung oder Vermessung dieses Terrains deuten, dessen Unabschliessbarkeit für ihn von Anfang an feststeht.
Das macht schon die Präsentation klar, die sich gegen jede Überschaubarkeit oder Hierarchisierung sperrt. Auch das Medium der Zeichnung selber wird vieldimensional weiterentwickelt. Alex Hanimann arbeitet mit Filz- und Bleistift, Kugelschreiber und Pinsel, Schreibmaschine, Tintenstrahl- und Laserdrucker, neuerdings auch häufiger mit dem Kopierer. Er zeichnet, paust - wie Warhol - vorgefundene Bilder durch, fotokopiert Zeitungsausschnitte, frottiert, collagiert, locht, schnipselt, generiert Bilder am Computer, druckt auf Papier, Folie, Blanko-Briefmarkenbögen. Manche Zeichnungen laufen über mehrere Blätter. Hinter der enormen Vielfalt verbirgt sich ein weiteres Ablenkungsmanöver: Sie dient dazu, systematisch alle Spuren von Subjektivität oder individueller Urheberschaft zu tilgen. Dass alle Blätter seit Jahren nicht mehr datiert sind, vereitelt zudem den Rückgriff auf die Entstehungs- oder Entwicklungsgeschichte als probatem Erklärungsmuster.
Die diversen Bildtypen und Motive wiederholen dieses Verfahren der Objektivierung auf einer anderen Ebene. Hanimann greift gern auf Vorhandenes zurück, kultiviert eine subtile Variante von Appropriation Art. Seine durchgepausten Bilder erinnern häufig an Bildlexika, deren ungelenken, unpersönlichen Zeichenstil er besonders zu schätzen scheint. Andere erinnern an Modellskizzen und technische Zeichnungen, die mit minimalen Eingriffen ins Absurde verschoben werden. Schemata, Schnitte, Profile, Signete, da und dort Muster, Comics oder Kinderspiele wie "Malen nach Zahlen" bilden das reiche Arsenal. Ein Konvolut widmet sich Tieren, ein anderes uniformierten Personen oder Trachten.
Breiten Raum nehmen Knäuel, Labyrinthe, Endlosbänder ein. Sie scheinen, ebenso wie die Blätter mit Textfragmenten, einen privilegierten Zugang zu eröffnen. Sind es nicht Strukturen, sprachliche und sonstige, mit denen wir uns sonst die Welt erschliessen? Doch gerade dies erweist sich hier als trügerisch. Die Textfragmente - zum Beispiel "Hier ist nichts, ausser ich sehe etwas", "Zwischen Wahr und Falsch nicht unbedingt unterscheiden können" - sind vor allem selbstreflexiv. Andere wenden genau jene Verfahren der Herauslösung aus dem Kontext, der Verschiebung, Variation, Palindrombildung auf Wörter und Sätze an, mit denen Hanimann üblicherweise Formen und Figuren bearbeitet. In die Irre führt auch das Ordnungsmodell, das die Labyrinthe und Knäuel anbieten: Es ist letztlich beliebig.
Hanimann entwirft in seinem Zeichnungsensemble eine hyperkomplexe, idiosynkratische Parallelwelt, die auf den verschiedensten Ebenen und Kanälen mit unserer heutigen Wirklichkeit korrespondiert, zum Teil aber auch hermetisch bleibt, sich in den Kokon der formalen Variation einspinnt. Der Künstler ironisiert den Anspruch, Kunst könne Antworten auf lebensweltliche Probleme bieten. Am Ende konfrontiert er uns vor allem mit der Brüchigkeit der Ordnungs- und Kommunikationssysteme, mit denen wir eine komplexe, heterogene Welt - oder auch nur die wuchernden Fantasien eines Künstlers - vergeblich in den Griff zu bekommen versuchen. Atom in Pakistan: die Welt ist nicht so übersichtlich, wie wir sie gerne hätten. Der Lehre des Zeichners zu folgen hiesse im Uferlosen schwimmen zu lernen. Allerdings setzt das die Bereitschaft voraus, sich auf Hanimanns ästhetisch und intellektuell anspruchsvolle Exerzitien einzulassen.

Kunstmuseum Solothurn, bis 19.3. Umfangreiches Katalogbuch (Verlag für moderne Kunst Nürnberg), in der Ausstellung 38 Franken.