Barbara Basting

Neu schauen lernen

Der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman bringt frischen Wind ins Gewerbe



Die wachsende Popularität von Führungen in Kunstmuseen, die steigende Nachfrage nach kunsthistorischen Kommentaren kann man positiv oder negativ interpretieren: Erfreulich, dass die Museumsbesucher bereit sind zur Auseinandersetzung mit Kunstwerken, die sich ihnen nicht unmittelbar erschliessen. Andererseits lässt dies auf eine weit verbreitete Unsicherheit im Umgang mit Kunst schliessen. Während vor einem Bild doch nichts einfacher wäre, als zu schauen, misstrauen wir meist dem eigenen Auge, der eigenen Lust am Schauen. Die vielbeschworene Kommentarbedürftigkeit der modernen Kunst hat diese Tendenz noch verstärkt. Nur zu schnell erfolgt der Griff nach den bereitgehaltenen historischen, biografischen, stilgeschichtlichen Kommentaren.
Diese aber verstellen den offenen Blick auf das Werk manchmal mehr, als sie ihn fördern. Nur wäre es falsch, dies allein der Museumspädagogik anzulasten. Sie steht nur am Ende einer langen kunsthistorischen Fresskette. In seiner polemischen Studie "Vor einem Bild" zeigt der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman, dass diese bei Giorgio Vasari anfängt und bei Erwin Panofsky nicht aufhört. Der Renaissancegelehrte und Künstler Vasari hat mit seinen schönfärberischen Künstlerviten ein fragwürdiges, biografisch orientiertes Modell für die Kunstgeschichtsschreibung geliefert. Der Begründer der ebenso einflussreichen modernen Ikonographie, Erwin Panofsky, hat glaubhaft gemacht, man könne Bilder umfassend entschlüsseln.
Allerdings geht es Georges Didi-Huberman, Jahrgang 1953 und derzeit einer der methodisch originellsten Vertreter seines Faches, weniger um den Vatermord in Serie als um die Aufdeckung eines Defizits der klassischen Kunstgeschichte. In gut poststrukturalistischer Tradition richtet er die Aufmerksamkeit auf die blinden Flecken seines Faches, indem er zentrale Texte gegen den Strich bürstet. Das geschieht auf höchst subtile Weise. Allerdings basiert diese Textkritik, und dies macht die eigentliche Stärke von Didi-Hubermans Ansatz aus, nicht einfach nur auf einer dekonstruktivistischen Lektüre. Ihr Ausgangspunkt ist eine ausserordentliche Sensibilität des Schauens. So beschreibt der Kunsthistoriker zum Beispiel auf bestechende Weise eine rätselhaft weisse, alles überstrahlende Bildfläche auf einem Verkündigungsfresko von Fra Angelico in einer Klosterzelle von San Marco in Florenz.
Der ikonografisch geschulte Blick, der auf die Inventarisierung und restlose Interpretation von Quellen und Motiven aus ist, prallt ihm zufolge an dem kargen Fresko unbefriedigt ab. Für Didi-Huberman zeigt dies die Beschränktheit des ikonografischen Ansatzes, der jedes Bild als Abbildung, als Mimesis versteht und diese möglichst umfassend in Worte übersetzen will. Gerade die weisse Fläche in Fra Angelicos Fresko funktioniert aber nach einem ganz anderen Prinzip, dem der Inkarnation. Das Dogma von der Menschwerdung Christi spielte vor allem für die frühchristliche Kunst eine gewichtige Rolle. Der Kirchenvater Tertullian verteidigte es, um die antike Mimesistheorie zu verdrängen. Zwar wurden Bilder nicht verboten - wie im Islam -, doch wurde ein alternativer Bildtypus propagiert. Will heissen: Die weisse Fläche zeigt nicht die Verkündigung, indem sie sie abbildet. Sie soll vielmehr mit bildnerischen Mitteln im Betrachter genau jene Überwältigung hervorrufen, den die Verkündigung auf Maria gehabt haben mag.
Didi-Huberman geht es nicht um die Abschaffung der kunsthistorischen Interpretation, sondern um eine kritische Korrektur. Seine Studie könnte für die Kunstwissenschaft werden, was einflussreiche Texte wie Roland Barthes "Vergnügen am Text" oder Susan Sontags Essay "Against Interpretation" in einem Moment des Aufbruchs für die Literaturwissenschaft gewesen sind: Pamphlete, die zu alternativen Interpretationen, zu einem unkonventionelleren Umgang mit Texten - oder Bildern - ermutigen. Das Buch, vor zehn Jahren schon auf Französisch erschienen, ist wegen seines der Dekonstruktion verpflichteten Sprachduktus, aber auch wegen der feingliedrigen Argumentation keine einfache Lektüre. Doch regt es dazu an, gegen den Strich zu denken - und unabhängig von gängigen Schemata der Interpretation zu schauen.

Georges Didi-Huberman, Vor einem Bild. Aus dem Französischen von Reinold Werner. Hanser Verlag, München 2000, 240 Seiten, Sfr 43,50.