Barbara Basting

Cyber-Illusionen

Die fortschreitende Digitalisierung der Bildmedien, die Entwicklung immer raffinierterer virtueller Bildwelten ruft Kunst- und Medienwissenschaftler auf den Plan, die belegen und legitimieren möchten, dass sie in einer privilegierten Position sind, um das Neue an den neuen Bildern zu erklären. Daher interpretieren sie dieses häufig vor der Folie des Bekannten. Das führt zwar manchmal zur forcierten Konstruktion von Genealogien, erlaubt dadurch aber auch den produktiven Vergleich durch Abgrenzung.
Der Kunsthistoriker Oliver Grau etwa schlägt vor, das völlige Eintauchen im Cyberspace als jüngste Version und zugleich Extremform eines wiederkehrenden Genres der abendländischen Kunst, des mit trompe-l'oeil-Effekten geschaffenen illusionistischen Bildraumes, zu verstehen. Dessen Ahnenreihe lasse sich bis in die Antike und die Wandmalereien der "Casa dei Misteri" in Pompeji zurück rekonstruieren (Into the Belly of the Image - Historical Aspects of Virtual Reality, Leonardo, Vol. 32., Nr. 5, 1999). Neben barocken Deckengemälden erscheinen Panoramen und Dioramen aus solch einer latent teleologisch orientierten Perspektive als Untersuchungsgegenstände, die neu zu befragen sich lohnen könnte.
Grau fragt dabei nach den Funktionen des Illusionismus. Die pompejianischen Fresken - lebensgrosse Figuren, die dem Betrachter von allen Seite zu Leibe rücken - waren demnach darauf angelegt, den Betrachter innerhalb eines Dionysos-Kultes emotional zu bewegen. Eine Rhetorik der Überwältigung inszenieren auch die Panoramen des 19. Jahrhunderts. Dass viele von ihnen Schlachten darstellten, belegt für den Autor die Nähe des populären Genres zur politischen Propaganda.
Die Moderne brach konsequent mit illusionistischen Bildmodellen. In ihrem ästhetischen Diskurs galt die emotionale Distanz des Betrachters sogar als Grundbedingung aller ästhetischen Erfahrung, der Wahrnehmung eines autonomen ästhetischen Objekts. Die Cyberforschung hingegen hat Grau zufolge nicht nur die alte Allianz von Kunst und Technologie neu belebt. Sie greift auch auf prämoderne Bildkonzepte zurück, die das Aufgehen des Betrachters im Bild anstreben.
Die Simulation von Leben gilt heute als grösste technologische Herausforderung der "Virtual Reality". Ihr Ideal ist eine Aufhebung der Benutzeroberfläche, die bisher noch immer eine gewisse Distanz zum virtuellen Raum schafft. Die Zuwendung zur Geschichte des illusionistischen Bildes könnte, so legt Graus Genealogie nahe, Kategorien liefern, um die jüngste Version der Absorption und Manipulation durch immersive Bilder zu analysieren.
Auch der kalifornische Medienhistoriker Lev Manovich fragt nach den illusionistischen Wirkungen digital erzeugter Bilder. Für seine Analyse beschränkt er sich auf den ergiebigen Vergleich mit dem direkten Vorgängermedium des Cyberspace, dem kinematografischen Bild. ("What Is Digital Cinema", The Digital Dialectic - New Essays on New Media, Hg. Peter Lunenfeld, MIT Press, Cambridge/Mass. 1999).
"Die digitalen Medien definieren die Identität des Films im Kern neu", lautet seine These. Kinospielfilme beruhen bisher weitgehend auf einer gefilmten vorfilmischen Realität. Es waren Fiktionen, die auf der Grundlage einer künstlich inszenierten Realität eine Illusion von Realität schufen.
Der digitalisierte Film schlage den Bogen zurück zu einem lange vernachlässigten Nebengleis der Kinogeschichte, der von Georges Méliès erfundenen Animation. Denn seit der Digitalisierung ist der Film grundsätzlich kein Medium der Aufzeichnung mehr, sondern eines der Bildkonstruktion. Bilderzeugung und -bearbeitung sind nicht mehr voneinander zu trennen. Einen ähnlichen Vorgang hat der von Manovich zitierte Zeichentheoretiker William J. Mitchell (The Reconfigured Eye, Cambridge/Mass. 1992) für die digitale Fotografie beschrieben. Mitchells Vergleich ist illustrativ: Computer-Tools zur Veränderung, Kombination, Umgestaltung und Zerlegung von Bildern sind für den digitalen Künstler, was Pinsel und Farbpigmente für seinen traditionellen Kollegen waren.
So, wie das Verhältnis von Malerei und Fotografie durch die Digitalisierung von Grund auf neu definiert wird - die Rede von einer "dokumentarischen" Fotografie wird ebenso obsolet wie die klassische Unterscheidung von Fotografie und Malerei - , ist auch im Film nichts mehr, wie es war: "Im Rückblick können wir sehen, dass die Unterwerfung des Kino des zwanzigsten Jahrhunderts unter die Gesetze des visuellen Realismus, die darauf beruhten, dass man Wirklichkeit aufzeichnen konnte, nur ein isolierter Zufall in der Geschichte der visuellen Darstellung war. Deren Basis war schon immer die manuelle Konstruktion von Bildern - und zu ihr kehrt sie nun zurück. Kino wird so zu einer Unterabteilung der Malerei - Malerei in der Zeit", meint Manovich.
Das Kino entfernt sich damit paradoxerweise von der Wirklichkeitsillusion, die es - selbst in seinen experimentelleren Formen - seit der Erfindung durch die Brüder Lumière schuf. Mit dem digitalen Kino gerät jeder Film, egal wie er entstanden ist, gerade auch der Dokumentarfilm, automatisch unter Verdacht, aus manipulierten Bildern gefertigt zu sein. So liefert ausgerechnet die Digitalisierung der Bilder zu illusionistischen Zwecken in Manovichs Lesart das Analyseinstrument gleich mit: Da sie durch ihre hochgradige Artifizialität permanent das Misstrauen des Betrachters erwecken, wird dieser entsprechende Formen der Lektüre entwickeln und somit auch zu den allerneuesten Illusionen in kritische Distanz treten.
So unterschiedlich der Blickwinkel der beiden Autoren ist, es gibt eine wichtige Gemeinsamkeit: Bei ihrem Versuch, die Konsequenzen der Digitalisierung der Bilder für unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit und ihrer visuellen Darstellung abzuschätzen, gerät nicht von ungefähr bei beiden der Betrachter ins Zentrum des Interesses. Denn seine Rolle wird von den digitalisierten Medien in noch kaum absehbarer Weise völlig neu definiert. Hier verläuft also, das legen die Beiträge nahe, der entscheidende Grabenbruch zwischen vordigitaler und digitaler Bildwelt.